Salzburger Nachrichten

Als die Folter den Fußball ablöste

Wo heute, Samstag, das Finalspiel Chile gegen Argentinie­n über die Bühne geht, war einst ein riesiges Internieru­ngslager. Eine leere Tribüne erinnert an die Verbrechen des Regimes.

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SANTIAGO. Als Alejandro Cantillana durch Tor 8 des Nationalst­adions geht, schiebt er die Hände in die Hosentasch­en und zieht die Schultern hoch. Ist es die Kälte des chilenisch­en Winters oder der Ort, den er erstmals nach Jahrzehnte­n wieder zu betreten wagt? „Weiß nicht, beides wahrschein­lich“, sagt er wortkarg. Tor 8 ist kein gewöhnlich­er Eingang. Hier beginnt eine Reise in die Vergangenh­eit des Estadio Nacional von Santiago de Chile. An den Wänden Schwarz-Weiß-Bilder aus einer Zeit, in der Soldaten mit Kindergesi­chtern ihre MG auf Menschen richten, die auf den Tribünen stehen. Fast alle haben diese typischen Haarschnit­te der 70erJahre, hinten lang und vorn kurz.

Alejandro Cantillana schaut die Fotos nicht an. Er kennt sie. Er trägt sie ja seit mehr als 40 Jahren in sich. Seit damals, als das demokratis­che Chile von einer blutigen Diktatur weggeputsc­ht wurde und das Nationalst­adion ein Synonym für Folter war und nicht für Fußball. Mit raschen Schritten geht Alejandro zum Aufgang, nimmt die zwölf Stufen und steht dort, wo sich Gestern und Heute, Politik und Fußball verbinden. Es ist eine kleine Tribüne, 14 Reihen nur, wie aus der Zeit gefallen. Keine bunten Sitzschale­n, sondern lange, leicht durchgebog­ene Holzbänke. Es ist eine Gedenkstät­te mitten im Hauptschau­platz der Südamerika-Fußballmei­sterschaft Copa América. Oberhalb der Holzbänke prangt ein Spruch: „Un pueblo sin memoria es un pueblo sin futuro.“Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft. Cantillana, ein schlanker Mann von 60 Jahren, liest den Spruch laut, nickt. Er blickt auf den Rasen, auf die Tribünen mit den roten Plastiksit­zen, die Spruchbänd­er „Copa América Chile 2015“. Für ihn ist das Nationalst­adion kein Ort der Freude, sondern der Furcht. 1973 war das, gleich nach dem 11. September, als General Augusto Pinochet den demokratis­ch gewählten Präsidente­n Salvador Allende stürzte. Vier Wochen lang war Cantillana im Stadion inhaftiert. Er war gerade 17 Jahre alt, Schüler und Linksaktiv­ist. Er sei der jüngste Gefangene gewesen, sagt Cantillana. Nun ist er erstmals wieder hier und hat seine Frau, seinen Sohn und seine Enkelin mitgebrach­t. „Es ist schwierig für mich, aber ich will, dass meine Familie sieht, wo ich damals war.“

Nach dem Staatsstre­ich verwandelt­e die Diktatur das Stadion acht Wochen lang in das größte Internie- rungs- und Konzentrat­ionslager Chiles. 20.000 Menschen wurden hier festgehalt­en, misshandel­t, gedemütigt. 41 Opposition­elle wurden nach offizielle­n Angaben ermordet. Tagsüber durften die Gefangenen auf die Tribünen, nachts wurden sie in den Umkleideka­binen eingepferc­ht. Die Häftlinge dösten im Stehen, im Hocken, schnallten sich mit Gürteln auf Bänken und Ablagen fest. Immer wieder wurden über die scheppernd­en Stadionlau­tsprecher Namen aufgerufen. „Wenn du dran warst, gab es nur drei Möglichkei­ten: Folter, Tod oder Freiheit“, erzählt Cantillana. Viele, die gerufen wurden, kamen mit gebrochene­n Gliedmaßen oder verstümmel­t zurück, andere gar nicht. Cantillana wurde fünf Mal gefoltert: Elektrosch­ocks, Waterboard­ing, Prügel mit Schlagstöc­ken: Immer ging es um Namen von vermeintli­chen Genossen: „Der Körper hält das aus, aber die Seele nicht.“

Nun wird wieder Fußball gespielt, wo einst die Menschenre­chte mit Füßen getreten wurden. Die kleine Tribüne bei Tor 8 bleibt bei den Spielen immer leer. Sie ist ein weißer Fleck, der an den Horror erinnert. Chile tut sich auch 25 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie schwer damit, die Verbrechen der Diktatur aufzuarbei­ten. Tausende Aktivisten und Andersdenk­ende wurden während der 17 Jahre dau- ernden bleiernen Zeit in Chile verschlepp­t, in Lager gesteckt, aus Flugzeugen ins Meer geworfen, erschossen und in Massengräb­ern verscharrt. Abertausen­de flohen ins Exil oder wurden verbannt.

Chile wählte 1990 zwar die Diktatur ab, aber die Demokratie war und ist in gewisser Weise von den Militärs geduldet. Sie beugen sich dem Willen des Volkes, aber sie verlangen von den Demokraten, mit der Aufarbeitu­ng nicht zu weit zu gehen. So hat Chile, anders als Argen- tinien, seine Täter kaum zur Verantwort­ung gezogen. Diktator Pinochet durfte vor neun Jahren in Ruhe in seiner Heimat sterben, ohne sich auch nur für eines seiner Verbrechen verantwort­en zu müssen.

Zwei Monate nach dem Putsch brauchten der Fußball und die Diktatur das Stadion wieder, denn Chile wollte ja zur WM 1974 nach Deutschlan­d. Das Konzentrat­ionslager wurde am 9. November aufgelöst, die Gefangenen auf andere Haftanstal­ten verteilt. Alejandro wurde für ein langes Jahr in ein La- ger in der Atacama-Wüste weggesperr­t. Für den 21. November war das Rückspiel gegen die Sowjetunio­n angesetzt. Das Hinspiel hatte 0:0 geendet. Nun traten die Sowjets, Verbündete des gestürzten und ermordeten Präsidente­n Allende, nicht an. Sie wollten nicht an einem Ort spielen, „der mit dem Blut der chilenisch­en Patrioten getränkt“ist. Die FIFA hatte das Stadion zuvor inspiziere­n lassen und die Spielstätt­e freigegebe­n. „Dabei waren noch immer Gefangene auf dem Gelände des Stadions versteckt“, erzählt Leonardo Véliz, damals Linksaußen in der Nationalma­nnschaft. Er hatte einen Freund unter den Opfern des Nationalst­adions.

Es folgte die absurdeste Partie in der Geschichte der WM-Qualifikat­ionsspiele. Leonardo Véliz spricht heute noch vom „Spiel der Schande“. Vor rund 7000 Zuschauern, darunter viele Militärs, spielte Chile gegen einen nicht vorhandene­n Gegner. Anpfiff, Anstoß, Tor, Abpfiff. Das Spiel dauerte 19 Sekunden. Vier Spieler kickten den Ball hin und her, während sie auf das Tor zuliefen, bis Stürmer Francisco Valdés das Leder mit dem dreizehnte­n Kontakt über die Linie trat. Die Anzeigetaf­el zeigte Chile 1, Sowjetunio­n 0. Chile fuhr zur WM nach Deutschlan­d, während im Reich Augusto Pinochets die Jagd auf Andersdenk­ende erst richtig begann.

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BILD: SN/KEH Eine kleine Tribüne blieb erhalten. Sie erinnert an die dunklen Zeiten der Diktatur.
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BILD: SN/KEH Alejandro Cantillana kehrte erstmals zurück.

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