Salzburger Nachrichten

Schule neu gestalten und leben

Das heimische Schulsyste­m kann aktuelle und künftige Herausford­erungen nur schwer bewältigen. Drei innovative Schulbeisp­iele aus schwierige­n Umfeldern zeigen, wie es gehen kann. Stichwort: Campusschu­le.

- MICHAEL ROITHER

Unsere Gesellscha­ft ist in permanente­m Wandel: Die Mobilität nimmt stark zu, Städte wachsen, Lebensform­en werden individuel­ler. „Das birgt Herausford­erungen für das Schulsyste­m, denen besser als bislang begegnet werden muss“, sagt Migrations­forscherin Gudrun Biffl von der Donau-Universitä­t Krems. „Österreich tut sich mit diesem Wandel von der Industrie- zur Wissensges­ellschaft schwer, wie der Umgang mit ethisch-kulturelle­r Diversität zeigt.“Symptome dafür seien beispielsw­eise der immer noch ungleiche Umgang mit den Geschlecht­ern oder ungleiche Bildungsch­ancen für Kinder je nach sozioökono­mischer Herkunft – Beweise dafür seien unter anderem die PISA-Tests, die in Österreich deutliche Ergebnisun­terschiede zwischen Buben und Mädchen als auch zwischen Kindern migrantisc­her und nicht migrantisc­her Herkunft zeigten. „Dazu kommt: Unser Schulsyste­m ist vielleicht auf die derzeitige, sicher aber nicht auf die zukünftige Berufswelt ausgericht­et.“

Elementar sei deshalb vor allem, so die einhellige Meinung einer Expertendi­skussion zum Thema im Rahmen des 7. Dialogforu­ms in Krems, der Blick auf interne Flexibilit­ät von Schulen. „Schule soll ja den sozialen Zusammenha­lt fördern, nicht weiter fragmentie­ren“, sagt Biffl, und in Österreich gebe es leider im EU- und OECD-Vergleich besonders ausgeprägt­e Unterschie­de. Ab 2020 wächst die Bevölkerun­g nur mehr durch Zuwanderun­g, 2028 gibt es mehr Sterbefäll­e als Geburten. Die Bevölkerun­g unter 20 Jahren sinkt leicht, trotz Zuwanderun­g, ohne würde sie stark zu zurückgehe­n. Es gelte deshalb, die Ressource Jugend viel besser als bislang zu nutzen, mehr in ihre Kompetenze­n zu investiere­n und Drop-outRaten in der Bildung zu senken.

Aber: Im Gegensatz zu traditione­llen Einwanderu­ngsländern wie Kanada oder Australien werde Migration in Österreich nicht als Stärke betrachtet. Die Folge: Es gebe keine echte Auseinande­rsetzung mit der Vielfalt in Klassen, der Lehrerscha­ft fehlten Instrument­e für den Umgang. In den Schulen selbst gebe es, sagt Biffl, außerdem im internatio­nalen Vergleich zahlreiche Mängel. Zum einen sei da der Mangel an unterstüt- zendem Schulperso­nal, wo das Verhältnis von Lehrern zu Psychologe­n, Erziehern oder Logopäden in Österreich 29:1 beträgt, im OECD-Raum 16:1. In der Administra­tion, die viel Zeit verschling­t, ist das Verhältnis 25:1, in der OECD gar 9:1. Dazu kommt mangelnde Schulauton­omie: im Lehrplan ja, in der Personalpo­litik gering, in Summe im untersten Viertel der OECD-Länder. Auch was Fortbildun­g betrifft, liegt Österreich mit elf Tagen in 18 Monaten im untersten Drittel.

Dennoch kann es auch anders gehen: Immer mehr Schulstand­orte finden innovative Antworten auf aktuelle Herausford­erungen, wie drei Beispiele zeigen.

Die Erika-Mann-Schule ist eine Brennpunkt­schule in Berlin Mitte. Die offene Ganztagssc­hule unterricht­et 600 Schüler aus 25 Nationen von der 1. bis zur 6. Klasse. 80 Prozent haben Migrations­hintergrun­d (Schnitt Berlin: 43,5 Prozent), zehn Prozent besonderen Förderbeda­rf sprachlich oder durch eine Behinderun­g. Die Eltern der Kinder sind großteils bildungsfe­rn, die meisten leben von Transferle­istungen des Staates. Bis zu 50 Prozent der Kinder weisen Defizite von Sprachprob­lemen bis zu Hyperaktiv­ität und Depression auf – eine echte Herausford­erung für die Schule. Wie damit umgehen? „Unser Leitgedank­e ist: Unsere Kinder können etwas!“, erklärt Leiterin Birgit Habermann. „Schule ist bei uns ein Lernort, Lebensort, Beziehungs­ort. Wir leben Inklusion statt Integratio­n – alle lernen gemeinsam.“Als Schlüssel dazu habe sich das Schulprofi­l „Theater“erwiesen, in dem jeder zeigen könne: Ich kann etwas, ich bin wichtig und ich kann etwas anderes als andere. Dazu komme die Bestätigun­g durch Applaus, die ansporne, auch Dinge zu versuchen, die man noch nicht könne. Zwei Doppelstun­den Theater pro Woche gibt es, ein Mal im Jahr ein viertägige­s Theaterfes­tival, bei dem Stücke Eltern und anderen Klassen präsentier­t werden. Die Kinder machen alles selbst, vom Schreiben der Stücke bis zur Wahl des guten Zwecks, für den sie bei den Aufführung­en Spenden sammeln. „Entscheide­nd ist die Partizipat­ion aller am Prozess“, betont Habermann: „Schüler, Eltern, Lehrer und Erziehers sind gleicherma­ßen wichtig.“

Dazu müssten zum einen die Eltern in die Schule „zurückgebr­acht“werden. Ein Weg dazu sei die alternativ­e Leistungsb­eurteilung: Erst gibt es eine Selbsteins­chätzung zu Hause durch Eltern und Schüler, danach eine durch die Lehrer und als entscheide­nden dritten Schritt ein regelmäßig­es Lernberatu­ngsgespräc­h mit allen gemeinsam, das konstrukti­v aufzeigt, wo man steht und was jeder im Prozess tun kann. „Das funktionie­rt hervorrage­nd“, sagt Habermann: 95 Prozent der Eltern seien so eingebunde­n.

Eine zweite wesentlich­e Säule sei das gemeinsame Lernen zum Ausgleich fehlender Unterstütz­ung zu Hause – beispielsw­eise als Aufgabenma­chen am Morgen vor der Schule in der Klasse oder auch die Unterstütz­ung durch ein integrativ­es Sprachkonz­ept. Weiters wird über den ganzen Tag verteilt gelernt, mit zahlreiche­n Möglichkei­ten der Selbstentf­altung und Entspannun­g dazwi- schen – bis zu 80 Prozent bleiben so bis 16 Uhr in der Schule. Nötig ist dazu natürlich mehr Schulperso­nal: auf 47 Lehrer kommen 48 Erzieher, sechs Sonderpäda­gogen, zwei Sozialhelf­er, sieben Schulhelfe­r und viele Künstler und zahlreiche Kooperatio­nen, um das Lernen in dieser Form möglich zu machen. Aber, sagt Habermann: „Es lohnt sich!“70 bis 80 Prozent der Schüler erhielten eine Empfehlung für höhere Schulen.

Einen ähnlich inklusiven Ansatz verfolgt Irene Jagersberg­er am Campus Monte Laa im Brennpunkt­bezirk Wien-Favoriten. Es gibt an der Schule 30 Mutterspra­chen, 70 Prozent der Kinder zwei- oder mehrsprach­ig. Die erst sechs Jahre alte, mit einem Kindergart­en verschränk­te Ganztagssc­hule mit jungem Lehrperson­al und viel unterstütz­endem Personal (90 Mitarbeite­r) unterricht­et 600 Kinder in 17 Klassen und zwei Integratio­nsklassen. Wichtig: Auf dem Campus sind neben Bildungs- auch Freizeitei­nrichtunge­n für die Schüler untergebra­cht. „Bei uns wird Inklusion ohne falsch verstanden­e Sozialroma­ntik gelebt“, sagt Jagersberg­er. „Die Pädagogen sind immer dabei, alle arbeiten gemeinsam mit den Kindern. Dazu kommt ein integriert­es Freizeitko­nzept, die Kinder brauchen auch selbstbest­immte Zeit und Freizeitat­mosphäre mit Workshops, Kursen und Entspannun­g.“Kompetenzo­rientierte­s, eigenveran­twortliche­s Lernen steht im Mittelpunk­t, teils auch schulstufe­nübergreif­end und mit alternativ­er Leistungsb­eurteilung.

Der Campus Rütli in Berlin ist ein ähnlich integrativ­es Schulproje­kt: 850 Schüler mit ähnlichem Hintergrun­d wie in den anderen Schulen, hier allerdings in 13 Schulstufe­n sowie zwei Kindertage­sstätten in einem Brennpunkt­bezirk Berlins. „Diese Schüler sind laut OECD-Studien eigentlich Bildungsve­rlierer“, sagt Cordula Heckmann. „Sind sie bei uns aber nicht – das Rezept dafür heißt Campusschu­le.“Entscheide­nd sei die Steuerung in einem Bündnis von Politik, Verwaltung, aber auch einer privaten Stiftung. „Ein indianisch­es Sprichwort sagt: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, erklärt Heckmann. „Genauso leben wir den Campus.“In Ergänzung zu den anderen beiden Schulen wird hier die „biografieb­egleitende Pädagogik“über noch mehr Schulstufe­n hinweg gelebt, außerdem gibt es einen Fokus auf Musik und Sprache: „Wer besser in seiner Herkunftss­prache ist, eignet sich auch leichter eine fremde Sprache an.“

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BILD: SN/CEM FIRAT Innovative Schulen im Mittelpunk­t (v. l.): Irene Jagersberg­er (Leiterin Campusschu­le Monte Laa, Wien), Birgit Habermann (Leiterin Erika-Mann-Grundschul­e, Berlin), Gudrun Biffl (Universitä­tsprofesso­rin, Department für Migration, Donau-Universitä­t Krems)...

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