Schule neu gestalten und leben
Das heimische Schulsystem kann aktuelle und künftige Herausforderungen nur schwer bewältigen. Drei innovative Schulbeispiele aus schwierigen Umfeldern zeigen, wie es gehen kann. Stichwort: Campusschule.
Unsere Gesellschaft ist in permanentem Wandel: Die Mobilität nimmt stark zu, Städte wachsen, Lebensformen werden individueller. „Das birgt Herausforderungen für das Schulsystem, denen besser als bislang begegnet werden muss“, sagt Migrationsforscherin Gudrun Biffl von der Donau-Universität Krems. „Österreich tut sich mit diesem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft schwer, wie der Umgang mit ethisch-kultureller Diversität zeigt.“Symptome dafür seien beispielsweise der immer noch ungleiche Umgang mit den Geschlechtern oder ungleiche Bildungschancen für Kinder je nach sozioökonomischer Herkunft – Beweise dafür seien unter anderem die PISA-Tests, die in Österreich deutliche Ergebnisunterschiede zwischen Buben und Mädchen als auch zwischen Kindern migrantischer und nicht migrantischer Herkunft zeigten. „Dazu kommt: Unser Schulsystem ist vielleicht auf die derzeitige, sicher aber nicht auf die zukünftige Berufswelt ausgerichtet.“
Elementar sei deshalb vor allem, so die einhellige Meinung einer Expertendiskussion zum Thema im Rahmen des 7. Dialogforums in Krems, der Blick auf interne Flexibilität von Schulen. „Schule soll ja den sozialen Zusammenhalt fördern, nicht weiter fragmentieren“, sagt Biffl, und in Österreich gebe es leider im EU- und OECD-Vergleich besonders ausgeprägte Unterschiede. Ab 2020 wächst die Bevölkerung nur mehr durch Zuwanderung, 2028 gibt es mehr Sterbefälle als Geburten. Die Bevölkerung unter 20 Jahren sinkt leicht, trotz Zuwanderung, ohne würde sie stark zu zurückgehen. Es gelte deshalb, die Ressource Jugend viel besser als bislang zu nutzen, mehr in ihre Kompetenzen zu investieren und Drop-outRaten in der Bildung zu senken.
Aber: Im Gegensatz zu traditionellen Einwanderungsländern wie Kanada oder Australien werde Migration in Österreich nicht als Stärke betrachtet. Die Folge: Es gebe keine echte Auseinandersetzung mit der Vielfalt in Klassen, der Lehrerschaft fehlten Instrumente für den Umgang. In den Schulen selbst gebe es, sagt Biffl, außerdem im internationalen Vergleich zahlreiche Mängel. Zum einen sei da der Mangel an unterstüt- zendem Schulpersonal, wo das Verhältnis von Lehrern zu Psychologen, Erziehern oder Logopäden in Österreich 29:1 beträgt, im OECD-Raum 16:1. In der Administration, die viel Zeit verschlingt, ist das Verhältnis 25:1, in der OECD gar 9:1. Dazu kommt mangelnde Schulautonomie: im Lehrplan ja, in der Personalpolitik gering, in Summe im untersten Viertel der OECD-Länder. Auch was Fortbildung betrifft, liegt Österreich mit elf Tagen in 18 Monaten im untersten Drittel.
Dennoch kann es auch anders gehen: Immer mehr Schulstandorte finden innovative Antworten auf aktuelle Herausforderungen, wie drei Beispiele zeigen.
Die Erika-Mann-Schule ist eine Brennpunktschule in Berlin Mitte. Die offene Ganztagsschule unterrichtet 600 Schüler aus 25 Nationen von der 1. bis zur 6. Klasse. 80 Prozent haben Migrationshintergrund (Schnitt Berlin: 43,5 Prozent), zehn Prozent besonderen Förderbedarf sprachlich oder durch eine Behinderung. Die Eltern der Kinder sind großteils bildungsfern, die meisten leben von Transferleistungen des Staates. Bis zu 50 Prozent der Kinder weisen Defizite von Sprachproblemen bis zu Hyperaktivität und Depression auf – eine echte Herausforderung für die Schule. Wie damit umgehen? „Unser Leitgedanke ist: Unsere Kinder können etwas!“, erklärt Leiterin Birgit Habermann. „Schule ist bei uns ein Lernort, Lebensort, Beziehungsort. Wir leben Inklusion statt Integration – alle lernen gemeinsam.“Als Schlüssel dazu habe sich das Schulprofil „Theater“erwiesen, in dem jeder zeigen könne: Ich kann etwas, ich bin wichtig und ich kann etwas anderes als andere. Dazu komme die Bestätigung durch Applaus, die ansporne, auch Dinge zu versuchen, die man noch nicht könne. Zwei Doppelstunden Theater pro Woche gibt es, ein Mal im Jahr ein viertägiges Theaterfestival, bei dem Stücke Eltern und anderen Klassen präsentiert werden. Die Kinder machen alles selbst, vom Schreiben der Stücke bis zur Wahl des guten Zwecks, für den sie bei den Aufführungen Spenden sammeln. „Entscheidend ist die Partizipation aller am Prozess“, betont Habermann: „Schüler, Eltern, Lehrer und Erziehers sind gleichermaßen wichtig.“
Dazu müssten zum einen die Eltern in die Schule „zurückgebracht“werden. Ein Weg dazu sei die alternative Leistungsbeurteilung: Erst gibt es eine Selbsteinschätzung zu Hause durch Eltern und Schüler, danach eine durch die Lehrer und als entscheidenden dritten Schritt ein regelmäßiges Lernberatungsgespräch mit allen gemeinsam, das konstruktiv aufzeigt, wo man steht und was jeder im Prozess tun kann. „Das funktioniert hervorragend“, sagt Habermann: 95 Prozent der Eltern seien so eingebunden.
Eine zweite wesentliche Säule sei das gemeinsame Lernen zum Ausgleich fehlender Unterstützung zu Hause – beispielsweise als Aufgabenmachen am Morgen vor der Schule in der Klasse oder auch die Unterstützung durch ein integratives Sprachkonzept. Weiters wird über den ganzen Tag verteilt gelernt, mit zahlreichen Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Entspannung dazwi- schen – bis zu 80 Prozent bleiben so bis 16 Uhr in der Schule. Nötig ist dazu natürlich mehr Schulpersonal: auf 47 Lehrer kommen 48 Erzieher, sechs Sonderpädagogen, zwei Sozialhelfer, sieben Schulhelfer und viele Künstler und zahlreiche Kooperationen, um das Lernen in dieser Form möglich zu machen. Aber, sagt Habermann: „Es lohnt sich!“70 bis 80 Prozent der Schüler erhielten eine Empfehlung für höhere Schulen.
Einen ähnlich inklusiven Ansatz verfolgt Irene Jagersberger am Campus Monte Laa im Brennpunktbezirk Wien-Favoriten. Es gibt an der Schule 30 Muttersprachen, 70 Prozent der Kinder zwei- oder mehrsprachig. Die erst sechs Jahre alte, mit einem Kindergarten verschränkte Ganztagsschule mit jungem Lehrpersonal und viel unterstützendem Personal (90 Mitarbeiter) unterrichtet 600 Kinder in 17 Klassen und zwei Integrationsklassen. Wichtig: Auf dem Campus sind neben Bildungs- auch Freizeiteinrichtungen für die Schüler untergebracht. „Bei uns wird Inklusion ohne falsch verstandene Sozialromantik gelebt“, sagt Jagersberger. „Die Pädagogen sind immer dabei, alle arbeiten gemeinsam mit den Kindern. Dazu kommt ein integriertes Freizeitkonzept, die Kinder brauchen auch selbstbestimmte Zeit und Freizeitatmosphäre mit Workshops, Kursen und Entspannung.“Kompetenzorientiertes, eigenverantwortliches Lernen steht im Mittelpunkt, teils auch schulstufenübergreifend und mit alternativer Leistungsbeurteilung.
Der Campus Rütli in Berlin ist ein ähnlich integratives Schulprojekt: 850 Schüler mit ähnlichem Hintergrund wie in den anderen Schulen, hier allerdings in 13 Schulstufen sowie zwei Kindertagesstätten in einem Brennpunktbezirk Berlins. „Diese Schüler sind laut OECD-Studien eigentlich Bildungsverlierer“, sagt Cordula Heckmann. „Sind sie bei uns aber nicht – das Rezept dafür heißt Campusschule.“Entscheidend sei die Steuerung in einem Bündnis von Politik, Verwaltung, aber auch einer privaten Stiftung. „Ein indianisches Sprichwort sagt: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, erklärt Heckmann. „Genauso leben wir den Campus.“In Ergänzung zu den anderen beiden Schulen wird hier die „biografiebegleitende Pädagogik“über noch mehr Schulstufen hinweg gelebt, außerdem gibt es einen Fokus auf Musik und Sprache: „Wer besser in seiner Herkunftssprache ist, eignet sich auch leichter eine fremde Sprache an.“