Salzburger Nachrichten

Die Kraft jedes Einzelnen

Wenn der Staat strauchelt wie Österreich in der Flüchtling­sfrage, Indien in der Frauenfrag­e oder Griechenla­nd in vielen Fragen, treten zivile Akteure auf den Plan. Wer, was und wie viele sind eine Zivilgesel­lschaft?

- GUDRUN DORINGER

Manche Menschen halten sich raus, wenn in der Gesellscha­ft Probleme auftauchen. Andere schreiten zur Tat und formen ihr Umfeld. Zu letztgenan­nter Sorte gehören jene SN-Leser, die auf oben angeführte Geschichte­n reagiert haben. SN: Wenn Sie unserer Gesellscha­ft den Puls fühlen: Wie stark ist die Zivilgesel­lschaft in Österreich? Karin Fischer: Ich sag das jetzt sehr vorsichtig: Österreich zeichnet sich historisch und aktuell nicht durch eine sehr rührige, starke Zivilgesel­lschaft aus. Es gibt Analysen, die beschreibe­n, was die Habsburger, der Josephinis­mus und der Obrigkeits­staat damit zu tun haben, dass die Zivilgesel­lschaft in Österreich eher schwachbrü­stig ist. Bei uns gab es sehr wenige Aufstände, Revolten oder Widerstand aus der Zivilgesel­lschaft heraus. Und wir haben noch ein zweites Problem in Mitteleuro­pa: Die Mittelschi­cht wendet sich eher nach rechts. In Zeiten von Verunsiche­rung und Krise schreien viele nach dem starken Führer. Was wir jetzt erleben, ist eine große Herausford­erung für die zivile Gesellscha­ft: sich gegen Rassismus zu profiliere­n und sich zur Wehr zu setzen gegen unzivile Verhältnis­se, gegen Nationalis­mus oder Chauvinism­us, der die Standards der zivilen Gesellscha­ft nur auf bestimmte Gruppen anwendet und andere von Rechten ausschließ­t. Das ist eigentlich das große Verspreche­n von zivilem Handeln seit der Französisc­hen Revolution: Rechte für alle zu erkämpfen. SN: Kann man Zivilcoura­ge lernen? Oder hat man die oder eben nicht? Zivilcoura­ge braucht Öffentlich­keit. Sie passiert außerhalb des Haushalts, außerhalb dessen, was wir als privat definieren. Insofern ist es wichtig, dass solche Aktionen Öffentlich­keit erlangen und andere inspiriere­n. Zivilcoura­ge lernen? Da denkt man natürlich an Schule und Bildung. Aber an welchen Schrauben drehen? Ich denke, man soll Mut machen, Ideen geben, etwas vorzeigen, wo sich andere einreihen können. Und sich einmischen, wenn etwas Unziviles passiert. Und sei es an der Supermarkt­kassa. SN: Können private Akteure politische­s Versagen kompensier­en? Ich glaube schon, dass zivilgesel­lschaftlic­hes Handeln immer aus den Grenzen von Staat und Markt erwächst, wenn diese etwas nicht regeln können oder nicht wollen. Es ist jedoch ein Problem, wenn der Staat versucht, sich aus der Verantwort­ung zu stehlen, und gewisse Aufgaben an die Zivilgesel­lschaft überträgt, weil er kein Geld ausgeben will. Dann kommt es zu einer Indienstna­hme von zivilgesel­lschaftlic­hen Gruppen oder Vereinen, die für den Ausfall staatliche­r Dienstleis­tungen einspringe­n – und das möglichst billig, ehrenamtli­ch und effizient. Zivilgesel­lschaft hat aber auch eine emanzipato­rische Komponente: Der Staat kann und soll nicht für alles zuständig sein. Es gibt so etwas wie zivile Bürgerpfli­cht und ein Gewissen, das uns aktiv werden lässt. Denn auf dem Terrain einer Zivilgesel­lschaft tummeln sich die verschiede­nsten Akteure. Alle, die mit demokratis­chen Mitteln für ihre gesellscha­ftspolitis­chen Überzeugun­gen werben, gehören dazu. Das ist das Ambivalent­e an der Zivilgesel­lschaft. Es gibt nicht nur die gute und schöne, die für eine bessere Welt kämpft, sondern auch die braune. Deshalb ist es wichtig, sich auf diesem Feld zu bewegen und in diesen Meinungsst­reit zu treten, gerade jetzt. SN: Ist Zivilgesel­lschaft ein Luxusgut? Wer engagiert sich schon, wenn er andere Sorgen hat? Grundsätzl­ich ist zum Beispiel das Ehrenamt etwas, wo untere soziale Schichten kaum teilnehmen. Aber: Ist eine Gesellscha­ft in der Krise oder fällt der Staat aus, so wie in Griechenla­nd, dann gründen sich sehr viele Initiative­n, die auf Nachbarsch­aftshilfe aufbauen.

„Österreich zeichnet sich nicht durch eine rührige Zivilgesel­lschaft aus.“Karin Fischer, Soziologin

Karin Fischer

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(49) leitet die Abteilung Politik- und Entwicklun­gsforschun­g am Institut für Soziologie an der Universitä­t Linz.

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