Mit der Geisterbahn nach Europa
Die Balkanroute ist die Hauptader für den Flüchtlingsstrom. Einer der Schreckensorte auf der ungewissen Reise ist das mazedonische Kumanovo.
WIEN. „Alles“, ruft Salam Al Ghanem aus, „nur nicht Ungarn!“Angst, sagt der Mann, der kaum laufen kann, hat er immer nur vor der nächsten Bedrohung. Was ihn in Ungarn erwarten würde, weiß Salam. Sein junger Reisegefährte Adnan Saleh reißt das T-Shirt hoch und zeigt die großflächigen blauen Flecken vor. „Sie haben uns in ein Polizeiauto gezerrt und verprügelt.“Die beiden Männer, 38 und 26 Jahre alt, kommen aus dem südirakischen Basra, das gerade von einer Hungerrevolte erschüttert wird. Salam hat dort ein Granatsplitter den rechten Oberschenkel bis zum Knochen aufgerissen. Gehen kann er nur, wenn er sich auf Adnan stützt. Jetzt fürchten sich die Männer davor, nach Ungarn zurückgeschickt zu werden. Salam und Adnan sind wie alle knapp 4000 Flüchtlinge im Lager Traiskirchen über die so genannte Balkanroute nach Österreich gekommen. Die Strecke von der Türkei über Griechenland oder Bulgarien, Mazedonien, Serbien und Ungarn ist nach Schätzungen der EU-Grenzbehörde Frontex inzwischen Hauptader für den Flüchtlingsstrom aus Asien. Auch Afrikaner nutzen sie, seit die Türkei für etliche afrikanische Länder die Visumpflicht aufgehoben hat. Nach ungarischen Angaben sind seit Jahresbeginn 81.000 Flüchtlinge ins Land gekommen. Inzwischen hat die Regierung begonnen, an der Grenze zu Serbien einen Zaun zu errichten – den dritten nach je einem an der türkisch-griechischen und der türkisch-bulgarischen Grenze. Die meisten Flüchtlinge haben Monate in der Türkei verbracht und dort illegal gearbeitet. Syrer kommen über die Grenze bei Antakya, Afrikaner legal mit dem Flugzeug nach Istanbul. Iraker und Afghanen schlagen sich durch die Gebirge der Osttürkei oder wagen die Passage über den Van-See. Von Izmir geht es mit dem Boot auf eine griechische Insel und weiter nach Athen, von Istanbul auf dem Landweg über den Grenzfluss Evros nach Griechenland oder über die Hügel von Uzgac nach Bulgarien. Fast alle sammeln sich dann wieder in Mazedonien, einem weiteren Schreckensort der Reise. In der Grenzstadt Gevgelija kann man für 120 bis 150 Euro ein Fahrrad bekommen und es nach bis zu 160 Kilometern Strecke in Kumanovo an der serbischen Grenze für 30 Euro wieder verkaufen. „Mazedonien war furchtbar“, sagt eine 20-Jährige aus Aleppo, die mit ihrem Vater unterwegs ist. Wer kein Geld hat, geht zu Fuß die Eisenbahnlinie entlang. In einer Schlucht bei Veles ist es so schmal, dass immer wieder Menschen erfasst und getötet oder verletzt werden. Eine Frau, die in Veles gleich an der Bahnstrecke wohnt, hat aus ihrem Haus eine Samariter- station gemacht, verbindet Verletzte und teilt schlichte Hilfspakete aus. Gefürchtet sind rund um Kumanovo die Raubüberfälle; Flüchtlinge berichten von Banden, die ihnen alles abnehmen.
Wer es nach Serbien schafft, beantragt Asyl oder bekommt ein Papier, mit dem er sich 72 Stunden lang im Land aufhalten kann. 48.000 Menschen sind seit Jahresbeginn gekommen. Von Südserbien fährt der Nis-Express, eine Buslinie, Passagiere an die ungarische Grenze bei Subotica, wo sie auf dem Gelände einer alten Ziegelei campieren. Hier gibt es endlich wieder etwas zu trinken. „Kein Trinkwasser“steht auf Arabisch an dem Kran vor der Maschinenhalle, wo sie zu Dutzenden für einen Schluck anstehen.