Aus dem Tunnel in das Blut rauschen
Die Flucht von Drogenboss Joaquín Guzmán kommt gelegen, um die Gewalt im neuen Roman von Don Winslow besser zu verstehen.
In Mexiko singen sie ganz neue Lieder über Joaquín Guzmán, den sie „El Chapo“nennen (dt. der Kleine). Kaum war er aus dem Gefängnis abgehauen, wird der Boss des mexikanischen Sinaloa-Drogenkartells in Hymnen heldenhaft gefeiert, als eine Art Robin Hood, als einer, der sich etwas traut – und sei es, eigenhändig jemanden umzubringen. Warum wird einem solchen gehuldigt? Aus anbiedernder Angst? Aus echter Verehrung?
Ob Guzmán, der einer der Brutalsten, ein ganz harter Hund, sein soll, von den gleichen Albträumen gequält wird wie Adán Barrera? Den verfolgen seine Opfer bis in den Schlaf, Barrera floh nämlich auch aus dem Gefängnis. Und das lockt dann Barreras ehemaligen Freund und späteren Erzrivalen Art Keller aus der Reserve. Drogenfahnder Keller hatte, nachdem Barrera im Gefängnis gelandet war, genug vom Schlachten. Er lebt im Kloster, züchtet Bienen, will ein Leben „einfach im Frieden“. So einfach aber geht das nicht für einen, der jahrelang im Drogenkrieg war, der die Sache so persönlich nahm, dass er auch killte. Im Dschungel verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Und in so einen Dschungel aus Gewalt und Aussichtslosigkeit stößt Don Winslow mit dem Roman „Das Kartell“.
Keller muss also zurück in den Kampf. Barrera setzt ein Kopfgeld auf ihn aus. Also beginnt das Schlachten und Tarnen, das Täuschen und Niedermetzeln von Neuem und in immer grausameren Varianten. Und auch wenn alles auf einen filmreifen Western-Showdown hinausläuft, bleibt die bittere Gewissheit: Es hört und hört nicht auf.
„Das Kartell“setzt Winslows Meisterwerk „Tage der Toten“fort. Vor zehn Jahren war es erschienen und zu einem millionenfach verkauften Triumph geworden. Winslow montiert da ein breites Personen-Panoptikum zu einer Schilderung des blutigen Heranwachsens der Drogenkartelle, des Zerfallens staatlicher Ordnung und des brutalen Scheiterns jeder Gegenstrategie von den 1970er-Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende. An eine Fortsetzung – um sie gewaltig und fesselnd zu finden, muss man den ersten Teil nicht kennen – dachte der Autor nicht. Dass sie nun ziemlich zeitgleich mit dem neuerlichen Entkommen von Guzmán erscheint, gleicht einer absurden Dramaturgie, einer grausamen Parallele zur Wirklichkeit.
Das Kopfgeld nämlich hat Barrera noch im Gefängnis auf Keller ausgesetzt, bevor er spektakulär flieht. Und nur Stumpfsinnige können an- nehmen, dass nicht auch Joaquín Guzmán, bevor er Anfang Juli durch einen Tunnel abhaute, seine Geschäfte auch hinter Gittern problemlos weiterführen konnte.
Im Roman und in der Realität wird deutlich, wie aussichtslos die Situation in Mexiko längst geworden ist.
„Mexiko, das Land der Pyramiden und Paläste, der Wüsten und Dschungel, der Berge und Strände, Plazas und Patios, ist jetzt nur noch ein Schlachthof.“So lässt Winslow den Journalisten Pablo Mora beim Spazieren durch die Stadt Juárez sagen. Feiste Offiziere. Korrupte Polizei. Feige Journalisten. Politik nach den Gesetzen der Kartelle. Kinder, die zu Schlächtern erzogen werden. Alle teuer gekauft, erbarmungslos geschmiert – und wer sich nicht leicht kaufen lässt, dem wird das Leben schwer gemacht, wenn es überhaupt noch ein Leben gibt.
Aus dieser Brutalität entfaltet Winslows Roman eine schauderhafte Kraft. Gewaltexzesse – knochentrocken im Detail geschildet – sind schwer auszuhalten. Da foltern etwa Angehörige der Zetas, eines der neueren Kartelle, einen Mann. Sie schütten Benzin über ihn und zünden ihn an. „Du denkst, das tut weh? Das tut noch nicht weh“, sagt einer und reißt dem Todgeweihten das Leiberl von der verbrannten Haut. Winslow schildert viele solcher Szenen. Er tut es nicht, um bloß Effekt zu haschen. Die Gewalt – und auch ihre Auswirkung selbst auf die Psyche des Kartell-Bosses – existiert ganz einfach. Und die Gewalt muss beschrieben werden. Das passiert viel zu selten, denn längst ist sie Gewohnheit geworden.
Spürbar werden Wut und Ohnmacht, mit denen Winslow seinen Themen gegenübersteht. Das trieb ihn auch in die Fortsetzung.
Die Zahl der Toten dieses Krieges übersteigt Jahr für Jahr die Zehntausendermarke. Der Einfluss des Drogengeldes reicht bis in den angeblichen Kampf gegen den Terror im Nahen Osten. Nach dem Bankencrash 2008 kaufen sich die Kartelle billig in Unternehmen ein, pumpen Geld in Immobilien und Aktien. Absurd wird auf allen Seiten hochgerüstet, Hightech-Waffen und private Armeen stehen sich gegenüber. Also begann Winslow wieder zu recherchieren. Und neben grausamen Details macht er klar: Das Gemetzel tobt, weil in Amerika und Europa die Nachfrage nach Stoff so groß ist. Das sogenannte mexikanische Drogenproblem ist in Wahrheit ein amerikanisches und europäisches. „Die Ströme fließen. Kokain nordwärts. Geld südwärts“, schreibt Winslow. Und dazwischen fließt Blut. Winslow gelingt es, den Faktenstrom raffiniert zu einem großen Thriller werden zu lassen.
Die Gewalt der Kartelle, mächti- ger als Politiker, die ja längst ihnen gehören, ist ja keine Erfindung. Wie nichts Erfindung ist bei Winslow, der akribisch recherchiert. Erst recht keine Erfindung ist der Friedhof aus Namen, mit dem das Buch beginnt. Die Namen gehören jenen Journalisten, die in den vergangenen Jahren noch mutig genug waren, über Korruption und Mordgeschäfte zu schreiben – und dafür mit dem Leben bezahlten. In ihren Artikeln und Blogs stöbert Winslow das Elend auf. Dokuroman könnte man nennen, was er daraus machte. Die Charaktere sind fiktiv. Doch alle haben sie reale Vorbilder. Und selbst die grausamsten Verbrechen passierten tatsächlich.
Freilich sind die Namen der Protagonisten erfunden – etwa der von Adán Barrera. Doch leicht erkennbar nachgebaut ist die Figur eben jenem Joaquín „El Chapo“Guzmán, der schon 2001 unter mysteriösen Umständen aus dem Gefängnis geflohen ist. 2014 wurde er wieder erwischt. Nun ist er wieder weg. Dass er hinter Gittern und auf der Flucht uneingeschränkt der Boss blieb, darf als sicher gelten. Ein milliardenschwerer Drogenunternehmer ist er, der es auf die „Forbes“-Liste der reichsten Menschen der Welt schaffte. Da lässt es sich leicht schmieren, morden und herrschen. Und das ist – neben der Sichtbarmachung der Gewalt beim Rachefeldzug des US-Agenten Keller – auch der wichtigste Grundton bei Winslow. Der Drogenhandel lebt in jeder Beziehung von Abhängigkeiten – auch jener zwischen Anbietern und Verfolgern – und von der immer tiefer klaffenden Wunde zwischen Arm und Reich. Und nur einer ist so reich und mächtig, dass er sich einen Tunnel in ein anderes Leben buddeln kann.
„Die Ströme fließen. Kokain nordwärts. Geld südwärts.“