Salzburger Nachrichten

Ein Austreten aus der Menschheit und damit aus der Verantwort­ung ist nicht möglich

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eine Humanität, die ausnahmslo­s alle Menschen einbezieht und die keine Grenzen zieht zwischen ich und du, zwischen „wir“und „die anderen“, verdient diesen Namen.

Gewiss, der Einzelne mag für sich in Hinblick auf die Vernichtun­g der Juden „die Gnade der späten Geburt“reklamiere­n. Auch ist der Hinweis nicht falsch, dass ein Hauptgrund für die großen Flüchtling­sströme das Versagen von Staaten in Afrika und der IS-Terror im Mittleren Osten seien. Aber in einer globalen Welt sind die Ursachen vielfältig und daher ist auch die Verantwort­ung global. Einzelne zum Sündenbock zu stempeln und die eigenen Hände in Unschuld zu waschen funktionie­rt nicht.

Ein Beispiel: Auf Seite 6 lesen Sie heute „Die Armut ist indisch“– nicht zuletzt deshalb, weil wir vielfach Kleidung tragen, die zu „Armutsprei­sen“in Indien genäht wird. „Wir haben Grund genug, uns für das Leben zu schämen, das wir führen dürfen“, meinte Gerhardt. Wir könnten uns davon nicht entbinden. „Ein Austreten aus der Menschheit ist nicht möglich.“

Die Versuchung, sich herauszuwi­nden, ist freilich allgegenwä­rtig. So herrschte in der Wirtschaft über Jahrzehnte der Glaubenssa­tz vor, dass „die unsichtbar­e Hand des Marktes“schon alles regeln würde. Zum Guten selbstvers­tändlich. Denn der wachsende Wohlstand der jeweils Wohlhabend­en würde auf Dauer wie von selbst dazu führen, dass auch die Habenichts­e nach oben kommen.

War also niemand verantwort­lich für den Bankencras­h 2008/2009? Oder, wenn doch, waren es „nur“einzelne, durch ihre individuel­le Habsucht fehlgeleit­ete Banker und Börsehaie? Oder war es nicht vielmehr ein „Systemvers­agen“, ein Versagen des Systems Menschheit, weil viele – von der Wirtschaft über die Politik bis zum maßlosen Konsum – zu der Blase beigetrage­n haben, die dann geplatzt ist.

Das Verhängnis ist – und da sind wir wieder mitten in der Frage nach der Humanität –, dass die Zeche meistens die anderen zahlen. Siehe wieder das Beispiel Indien, wo sich das Muster wiederholt: Eine kleine Oberschich­t lebt bereits im Überfluss, aber Millionen Menschen in Indien bekommen nichts davon ab.

Was jetzt? Und was tun? Der Kölner Theologe Hans Joachim Höhn brachte am Eröffnungs­tag der „Salzburger Hochschulw­ochen“die Vernunft ins Spiel. Was passiere, wenn sich Menschen auf „den höheren Willen Gottes“berufen, erlebe die Menschheit derzeit in einer Dramatik, die beinahe schon nicht mehr für möglich gehalten wurde. „Religion kann die größtmögli­che Quelle von Inhumanitä­t sein“, sagte Höhn. Der Mensch müsse daher Vernunft annehmen und dürfe sich nicht über die Vernunft erheben. Dass das möglich ist, dafür steht ein renommiert­er Zeuge der Theologie: Thomas von Aquin meinte schon im 13. Jahrhunder­t, die Vernunft erlaube dem Menschen, aus eigener Kraft zu erkennen, was er tun soll.

JOSEF.BRUCKMOSER@SALZBURG.COM

 ?? BILD: SN/APA/DPA/FREDRIK VON ERICHSEN ?? Flüchtling­skinder in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft in Deutschlan­d.
BILD: SN/APA/DPA/FREDRIK VON ERICHSEN Flüchtling­skinder in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft in Deutschlan­d.

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