Ethnische Säuberung auf dem Balkan
Vor 20 Jahren vertrieb die kroatische Armee die serbische Bevölkerung aus ihrem jahrhundertealten Siedlungsgebiet. Bis heute wird der 4. August in Zagreb als nationaler Feiertag begangen.
Die ersten Granaten fielen am 4. August, früh um fünf Uhr, als alle noch in den Betten lagen. Wer wach wurde, wusste sofort: Die Kroaten kommen. Die Serben in der Kleinstadt Knin packten notdürftig ihre Sachen, stiegen in ihre Autos, auf Trecker und Fahrräder und fuhren davon. Wohin es gehen sollte, erfuhren sie aus dem Radio: In halbstündigen Abständen verkündete der kroatische Rundfunk, zwei „Korridore“zur Flucht nach Bosnien seien offen – einer davon bei dem Dorf Srb nördlich der Stadt. Fast alle folgten dem Aufruf.
Die „Operation Gewitter“im August 1995 wird in Kroatien heute als militärische Großtat zur „Wiederherstellung der territorialen Integrität“gefeiert. Tatsächlich kam es kaum zu Kämpfen; nur kleine Einheiten der serbischen Armee in den Bergen leisteten noch einige Tage Widerstand. Kurz vor der Aktion hatte Belgrad den Kommandeur der „Armee der Republik Serbische Krajina“durch einen treuen Befehlsempfänger des serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic ersetzt. Der General organisierte den Rückzug der serbischen Truppen nach Bosnien. Die zivilen Behörden des separatistischen Serbenstaats flohen als Erste. Schon am Vormittag des 4. August hob im Regierungsgebäude in Knin niemand mehr das Telefon ab. Die Bevölkerung folgte.
Rückzug und Flucht waren sorgfältig orchestriert. In nur 84 Stunden ging die jahrhundertelange Geschichte der Serben in Kroatien zu Ende. Im 18. Jahrhundert hatte Kaiserin Maria Theresia gegen die Osmanen, die das benachbarte Bosnien beherrschten, eine „Militärgrenze“, auf Serbisch und Kroatisch Krajina, errichtet. Im kargen Hinterland der dalmatinischen Küste sollten „Wehrbauern“bei Bedarf die Waffen ergreifen und die Türken zurückschlagen. Angesiedelt wurden vor allem Bauern orthodoxer Konfession, die vor den Muslimen in Bosnien geflohen waren – nach heutigen Be-
Kaiserin Maria Theresias Wehrbauern gegen die Osmanen
griffen Serben. Die Krajina war direkt dem Kaiser in Wien unterstellt und gehörte formal nicht zu Kroatien, das damals Teil des österreichisch beherrschten Ungarn war. Erst nach der Gründung der Doppelmonarchie 1867 wurden die habsburgtreuen Serben der Krajina dem kaiserlichen Statthalter in Zagreb unterstellt.
Als 1990 bei den ersten freien Wahlen in Kroatien die nationalistische HDZ von Franjo Tudjman siegte, fürchteten viele der etwa 580.000 Serben in Kroatien eine Wiederkehr des Zweiten Weltkriegs, als das mit den Nazis verbündete kroatische Ustascha-Regime Serben systematisch ermordet, vertrieben oder zum Katholizismus zwangsbekehrt hatte. Tatsächlich wurden Serben massenhaft entlassen. In ihren Mehrheitsgebieten regte sich bald bewaffneter Widerstand. Die Anführer setzten darauf, die serbischen Gebiete Kroatiens mit Serbien und dem serbischen Teil Bosniens zu einem neuen Groß-Serbien zu vereinigen. Einstweilen gründeten sie auf knapp einem Drittel des kroatischen Staatsgebiets ihre „Republik Serbische Krajina“. Kroaten wurden systematisch vertrieben.
Seit 1992 waren UNO-Blauhelme in der Krajina stationiert und stabilisierten die Teilung, sehr zum Verdruss der Kroaten. Mit der „Operation Gewitter“eroberte die kroatische Armee auch eine „geschützte Zone“der UNO – ähnlich, wie es vier Wochen zuvor die Serben in Srebrenica getan hatten.
Unsicher darüber, wie die „Operation Gewitter“international aufgenommen würde, verkaufte sie Zagreb als Befreiung der muslimischen Enklave Bihac, eines Gebiets im Nordwesten Bosniens, das den ganzen Krieg über von serbischen Truppen eingekreist war. Erst als Proteste ausblieben, inszenierte Tudjman in der „alten kroatischen Königsstadt“Knin, die vor dem Krieg freilich zu 90 Prozent von Serben besiedelt war, den großen Sieg.
Auf serbischer Seite herrscht bis heute der Verdacht, die Vertreibung der kroatischen Serben sei das eigentliche Ziel der Operation gewesen. Dafür gibt es auch einige starke Anhaltspunkte. Verteidigungsminister Gojko Susak erklärte, man habe der serbischen Bevölkerung eigentlich die „Chance zur friedlichen Wiedereingliederung“geben wollen, die Taktik aber geändert. Die Armee schoss nur von einer Seite in die Wohngebiete – was zur Flucht geradezu zwang. Tudjman rief den Serben nach, sie hätten „nur ihre dreckigen Unterhosen und ihr dreckiges Geld“zurückgelassen. In dem eroberten Gebiet ermordeten kroatische Soldaten und Polizisten nach Schätzungen kroatischer Menschenrechtler zwischen 400 und 800 Serben. Auf serbischer Seite spricht man von mehr als 2000 Vermissten.
Die Chance zur Rückkehr, wie sie die Westmächte im Friedensabkommen von Dayton gegen Zagreb durchgesetzt hatten, wurde von den kroatischen Behörden boykottiert und in die Länge gezogen. Von einst 580.000 Serben leben heute nur noch 187.000 in Kroatien – und selbst von ihnen viele nur formal, um ihr Eigentum nicht zu verlieren.