Ausbruch aus der digitalen Einsamkeit
Dass sie von Rockstars als Geheimtipp mit Zukunftspotenzial verehrt wurden, ist lang her: Schnell waren die Chemical Brothers selbst ein Massenphänomen. Heute verhelfen sie als Veteranen manchem Rockfestival zum digitalen Wandel.
SALZBURG, ST. PÖLTEN. Mit einem Computer ist man nie allein. Trotzdem klingt die Stimme, die mitten im Geschiebe und Gedränge elektronischer Sounds auftaucht, nicht restlos euphorisch: „Manchmal fühlst du dich so verlassen“, klagt sie. Von pumpenden, zirpenden und sirrenden Sounds wird sie dabei mit jeder Strophe enger eingekreist. Die britischen Chemical Brothers, die für das hypnotische Klanggeflecht verantwortlich zeichnen, erzählen mit „Sometimes I Feel So Deserted“, das ihr neues Album eröffnet, freilich keine autobiografische Geschichte. Als sie in den 90er-Jahren begannen, das Elektronikland zu erkunden, war ihr Ziel das Gegenteil von Vereinsamung. Einer Musik, die in ungezählte kleine Genres aufgesplittert war, verhalfen sie zu neuer Massentauglichkeit. Stars der Rockarenen wie Noel Gallagher von Oasis und U2Gitarrist The Edge bewunderten damals die Virtuosität, mit der die beiden britischen DJs und Produzenten mit Drumcomputern und Effektreglern ans Werk gingen. Der Big Beat, den sie zauberten, wurde schnell zum Modewort: Und bald stellten die beiden Geschichtestudenten, gemeinsam mit Formationen wie The Prodigy und Fatboy Slim, selbst die neue Popstargeneration. OasisChef Noel Gallagher bewarb sich bei den Chemical Brothers als Gastsänger.
Besuchern des FM4-FrequencyFestivals könnte heuer manches Déjà-vu-Erlebnis bevorstehen. Dort sind die Chemical Brothers in gut zwei Wochen neben Gitarrenrockern wie The Offspring und Linkin Park als größter Hauptact zu hören. Nach fünf Jahren Abstinenz haben die Chemical Brothers mit „Born in the Echoes“(Virgin/EMI) im Juli erstmals wieder ein Album veröffentlicht. Nach digitaler Revolution klingen die elf Songs freilich nicht mehr, aber die bewährten Codes wirken immer noch: Wie in alten Zeiten rappt da etwa Stargast Q-Tip über die exzentrischen Beats des Duos. Auch St. Vincent, Annie Clark und Beck steuern frische Impulse bei. Die Chemie stimmt noch im Erfolgsrezept der Chemical Brothers. Bei den Konzerten der Produzenten tröstet in der Regel eine visuell im- posante Show darüber hinweg, dass die Gäste nicht live dabei sind. Heuer ist der Tourkalender der Chemical Brothers besonders voll. Ihr Comeback feiern sie als alte Helden auf vielen großen Bühnen des Festivalsommers. Das wiederum hat ebenfalls mit einem wiederkehrenden Trend zu tun.
Elektronische Musik verdrängt aktuell wieder manche Gitarrenbands aus den Hitparaden. Und auch im Programm des FrequencyFestivals, das im August sein 15-jähriges Bestehen feiert, beanspruchen neue und alte Stars der elektronischen Tanzmusik heuer sichtbar mehr Platz: The Prodigy sind als Big-Beat-Veteranen angekündigt, der junge britische Produzent Martin Garrex tritt als Vertreter der neuen Elektro-Generation an.
In der heimischen Festivallandschaft hat sich in den vergangenen Jahren ein digitaler Wandel abgezeichnet: Neben den Rock-OpenAirs tauchten immer mehr Elektronikfestivals auf. Auch das Frequency bietet seit einigen Jahren mit seinem Nightpark ein eigenes elektronisches Festival im Rockfestival. Dort sind heuer in Ehren ergraute Stars des synthetischen Pops zu finden: Die Synthesizer-Band Orchestral Manoeuvres in the Dark reist heuer nach St. Pölten. Für den Nightpark hat das Festival heuer eine Neuerung angekündigt: Die Nachtschiene, die bisher in ein eigenes Gelände ausgelagert war, rückt dieses Jahr ins Zentrum. Die DJs bekommen ihre Bühne direkt auf dem Hauptgelände.
Festival: FM4-Frequency, „15 Years of Festival Madness“, 20. bis 22. August, VAZ St. Pölten, mit : Chemical Brothers, Kendrick Lamar, Ellie Goulding, TV on the Radio, Interpol, Bad Religion, José Gonzalez u. a.
WWW.FREQUENCY.AT