Besuch in der Stadt der Flüchtlinge
Das Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien wächst mit jedem Tag, an dem im benachbarten Syrien der Krieg tobt. Zehntausende Syrer suchen mitten in der Wüste Schutz und treffen mitunter ihre Feinde wieder.
Das Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien wächst mit jedem Tag, an dem im benachbarten Syrien der Krieg tobt. Zehntausende Syrer suchen mitten in der Wüste Schutz und treffen mitunter ihre Feinde wieder. SN-Redakteur Marian Smetana besuchte das Lager und berichtet seine bewegenden Eindrücke.
Die zerfetzten Stoffbahnen der Zelte wehen im Wüstenwind an der Straße Richtung Syrien. Die Skelette aus Eisenstangen und Planen lassen ahnen, was man in wenigen Kilometern zu Gesicht bekommt. Sie sind die Vorboten des jordanischen Flüchtlingscamps Zaatari, des zweitgrößten Flüchtlingslagers der Welt.
Das Einfahrtstor in das Camp wird von Panzern flankiert, Soldaten suchen an der Zufahrtsstraße Schutz vor Sonne und Staub. Ohne Erlaubnis darf hier niemand hinein oder hinaus. 82.000 Flüchtlinge warten in Zaatari, dass der Bürgerkrieg im nur sechs Kilometer entfernten Syrien endlich ein Ende hat.
Einer von ihnen ist Abu Rafat. Wenn der 50-Jährige aus seinem Container auf einem kleinen Hügel tritt, blickt er über ein Meer aus Zeltdächern – seine neue Heimat. Er lebt seit drei Jahren im Camp. Rafat floh im Winter 2012 aus der syrischen Stadt Daraa, gemeinsam mit seiner 16-köpfigen Familie, der Frau, den Kindern, den Enkelkindern. „Ich habe ein kleines Restaurant gehabt“, erzählt der 50-Jährige stolz. Heute kocht er Tee auf einem Gaskocher in einer improvisierten Küche, ein Stofffetzen trennt sie vom Waschraum und einem Loch im Boden, der Toilette.
Rafats neues Heim besteht aus drei Containern, dazwischen ist eine Zeltplane gespannt. „Wir haben uns eingerichtet, so gut es geht.“Vor allem das Wetter macht den Flüchtlingen zu schaffen. Im Sommer brennt die Wüstensonne auf das Camp, im Winter kriecht die Kälte in die improvisierte Bleibe.
„Allen ist klar, dass sie noch länger bleiben müssen“, erklärt Gazzi, eine Art Sprecher des Flüchtlingscamps am Eingang. Gazzi war jahrelang bei der jordanischen Luftwaffe, jetzt führt er durch Zaatari, als wäre es seine Heimatstadt. Ohne seine Begleitung darf niemand durch die staubigen Gassen und die verwinkelten Wege gehen. „Die Stimmung ist aufgeheizt“, sagt er. Schuld sei das Zusammenleben auf engstem Raum. „Und viele haben Angst vor dem syrischen Geheimdienst.“Auch eine andere Kriegspartei verbreitet ihren Schrecken über die Grenzen Syriens hinaus: die Daish. So wird die IS-Terrormiliz auf Arabisch genannt.
Die Islamisten sollen immer wieder im Flüchtlingslager Kämpfer rekrutieren. 3000 Euro pro Monat bekämen diese Dschihad-Söldner beim IS. Internationale Sicherheitsexperten bestätigen das. Auch die organisierte Kriminalität, Schmuggel, Menschenhandel und Kinderheirat waren im Camp lang ein Problem. Immer wieder kam es zu Gewalt und Übergriffen. Manche wollten in dem Chaos ihre Macht festigen, eine kriminelle Elite aufbauen.
Zahlreiche Flüchtlinge verließen deshalb das Lager wieder und gingen zurück nach Syrien. Doch dann bekam das Lager so etwas wie einen Bürgermeister. Der Berliner Kilian Kleinschmidt übernahm für die UNHCR die Verwaltung von Zaatari. Der 52-Jährige ist ein Krisenveteran der Vereinten Nationen. In Zaatari ist er der Boss. Er teilte das Camp in Bezirke auf, führte Adressen ein, ersetzte Hilfsgüter durch Chipkarten mit Guthaben und beschloss, die Bewohner für den lang illegal abgezapften Strom zahlen zu lassen. Die übliche humanitäre Hilfe sei entwürdigend, sagt er immer wieder in Interviews. Menschen bräuchten Würde und eine Perspektive, keine Almosen.
Mittlerweile ähnelt Zaatari immer mehr einer Stadt. Es gibt Schulen, einen Fußballplatz, Senkgruben, eine Moschee, und alle paar Hundert Meter einen Wassertank. Vier Millionen Liter Wasser werden täglich verbraucht, es gibt drei Spitäler, ein viertes wird gebaut. Etwa 1000 Kinder haben hier, mitten in der Wüste, schon das Licht der Welt erblickt.
2012, als die erste Flüchtlingswelle aus Syrien kam, wurde das Camp in neun Tagen unter der Führung der UNHCR errichtet. Heute ist das Flüchtlingscamp, der Einwohnerzahl nach, bereits die viertgrößte Stadt in Jordanien. Genau das wollte der Wüstenstaat eigentlich verhindern. Denn in der Vergangenheit gab es immer wieder große Fluchtbewegungen Richtung Jordanien. Auch die großen Flüchtlingslager von damals sind heute Städte. Vor allem Palästinenser, Armenier und Iraker siedelten sich an. Für ein Land, das so gut wie keine Bodenschätze besitzt, nicht recht viel größer als Österreich ist und von Zuwendungen von mächtigen Verbündeten wie den USA abhängig ist, eine schwierige Situation.
Gazzi führt über die Hauptstraße des Camps. „Sie wird ChampsÉlysées genannt“, sagt er, „wie die Prachtstraße in Paris.“Wer sich den Namen einfallen ließ, weiß Gazzi nicht. Tausende Menschen drängen sich auf der Hauptverkehrsader unter einem wirren Netz aus Stromleitungen. Entlang der Staubpiste stehen wacklige Stände mit Gemüse, Obst und Fahrradersatzteilen.
In einem Kiosk am Rand von Zaatari steht Omar. Es ist ein bulliger Mann in braunem Hemd. Er arbeitet in einem der kleinen Geschäfte, verdient etwa vier Dinar (rund fünf Euro) pro Tag. „Es ist besser als nichts tun, aber ich hätte gern mein eigenes Geschäft“, sagt Omar. Auch er hat sich mit seiner Familie auf einen längeren Aufenthalt eingestellt.
Vor seinem improvisiertem Lager aus Wellblech und Zeltplanen brummt ein Generator, der Strom für einen kleinen Kühlschrank liefert. „Eine Spende einer reichen jordanischen Familie“, erzählt er. Die Lage in Zaatari habe sich gebessert. Als er vor zwei Jahren kam, war es noch chaotisch. „Doch die Lage ist immer an der Kippe. Jetzt droht die Einstellung der Lebensmittelgutscheine“, sagt Omar. Wann glaubt er, dass er wieder nach Syrien geht?
„Vielleicht bleibe ich da.“