Ein echter Linker in London
Auch in England sind die Sozialdemokraten auf der Suche nach ihrer verloren gegangenen Identität. Ein aufrechter Hinterbänkler löst gerade einen Hype aus.
Als größte Überraschung gilt für viele, dass Jeremy Corbyn überhaupt im Rennen ist. Das empfindet er sogar selbst so, wie der linke Politiker kürzlich einräumte. Doch nun ist der Außenseiter nicht mehr nur im Rennen, er führt es Umfragen zufolge mit Vorsprung an – und könnte tatsächlich Chef der britischen Labour Party werden.
Jeremy Corbyn steht im Zentrum der Diskussionen in London, nachdem die Sozialdemokraten bei der Parlamentswahl im Mai eine herbe Niederlage hinnehmen mussten. Seitdem sucht die Partei einen Nachfolger für den zurückgetretenen Ed Miliband und da kommt der Begriff „Corbyn-Mania“wieder ins Spiel.
Jeremy Corbyn ist anders als seine Mitbewerber Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall, die alle Mitte 40 sind und bemüht, um die politische Mitte herumzutänzeln. Der bärtige Corbyn verkörpert das Gegenmodell: 66 Jahre alt, bescheiden, seit drei Jahrzehnten Hinterbänkler im Unterhaus, ohne jemals einen Ministerposten bekleidet zu haben. Er gehört nicht in die Schublade der Karrierepolitiker, des Establishments, das vor allem bei der Arbeiterklasse als „realitätsfern und arrogant“abgelehnt wird. Der Labour-Abgeordnete begann als Linker und ist es bis heute geblieben. Seine Pläne?
Er möchte Bahn und Post wieder verstaatlichen, er spricht sich gegen die nukleare Bewaffnung Großbritanniens aus, er befürwortet einen NATO-Austritt und schießt scharf gegen den Sparkurs der konservativen Regierung. Das kommt an, beispielsweise bei den Gewerkschaften. Er sei das „Gegenmittel“gegen das „Virus innerhalb der LabourPartei“, befand ein Gewerkschaftschef. Tatsächlich zerfällt die Partei seit Längerem in den rechten BlairFlügel und in jene Gruppe, die die Sozialdemokraten linker aufgestellt sehen will. Auch die größte Arbeitnehmervertretung Unite unterstützt den 66-jährigen Monarchiekritiker. Aber es sind vor allem die jungen Briten, die im Corbyn-Hype in Scharen zu seinen Veranstaltungen pilgern. „Es herrschte diese Wut nach dem Wahlsieg der Tories, weil wir nur allzu gut wissen, auf wessen Kosten die Sparpolitik geht“, sagt eine junge Engländerin. Es treffe ihre Generation. Der konservative „Telegraph“bezeichnete Corbyn unlängst als „Hauptbedrohung für die prokapitalistische Politik“, andere schrieben vom „Tsipras des Nordens“in Anlehnung an den linken griechischen Ministerpräsidenten. Zahlreiche Anhänger des britischen Altlinken meinen, mit ihm finde die Partei wieder zu ihren Wurzeln. Jeremy Corbyn kritisiert den seiner Meinung nach zu rechten Kurs, den Labour auch unter Ed Miliband bei der vergangenen Wahl fuhr. „Wir waren zu wirtschaftsfreundlich“, findet er zum Beispiel. Die Sozialdemokraten seien für die Wähler keine wirkliche Alternative gewesen. Die will der Mann, der für den Londoner Kreis Nord-Islington im Parlament sitzt, bieten. Er, der öfter mit dem Nachtbus nach Hause fährt und der zum dritten Mal verheiratet ist, aber Fragen zu seiner Person ablehnt. „Dieser ganze persönliche Kram über das Privatleben, ich hasse es“, sagt er. „Solche Dinge spielen keine Rolle.“
Vielmehr gehe es um neue Ideen, um eine faire Gesellschaft. Wo er auftaucht, wollen Fans seine Hand schütteln und ihm danken. Ein Kampagnen-Insider versucht das Phänomen so zu erklären: „Er ist zwar nicht Mick Jagger, aber man sieht, wie er Hoffnungen in den Menschen weckt.“Dagegen zeigen sich führende Sozialdemokraten erschrocken über den Erfolg des erfahrenen Linken. Alastair Campbell, Berater von Ex-Premier Tony Blair, setzte einen möglichen Sieg Corbyns gar mit einem „Autounfall“gleich. Andere befürchten, Labour könnte die Fehler aus den 1980er-Jahren wiederholen, als der Linksruck zu einer jahrelangen konservativen Dominanz unter Margaret Thatcher führte. Am 12. September findet die Wahl des neuen Parteivorsitzenden statt. Mitmachen darf jeder, der sich für drei Pfund registriert. Ab Freitag können Labour-Mitglieder per Brief ihre Stimme abgeben.