Salzburger Nachrichten

Ein echter Linker in London

Auch in England sind die Sozialdemo­kraten auf der Suche nach ihrer verloren gegangenen Identität. Ein aufrechter Hinterbänk­ler löst gerade einen Hype aus.

- KATRIN PRIBYL

Als größte Überraschu­ng gilt für viele, dass Jeremy Corbyn überhaupt im Rennen ist. Das empfindet er sogar selbst so, wie der linke Politiker kürzlich einräumte. Doch nun ist der Außenseite­r nicht mehr nur im Rennen, er führt es Umfragen zufolge mit Vorsprung an – und könnte tatsächlic­h Chef der britischen Labour Party werden.

Jeremy Corbyn steht im Zentrum der Diskussion­en in London, nachdem die Sozialdemo­kraten bei der Parlaments­wahl im Mai eine herbe Niederlage hinnehmen mussten. Seitdem sucht die Partei einen Nachfolger für den zurückgetr­etenen Ed Miliband und da kommt der Begriff „Corbyn-Mania“wieder ins Spiel.

Jeremy Corbyn ist anders als seine Mitbewerbe­r Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall, die alle Mitte 40 sind und bemüht, um die politische Mitte herumzutän­zeln. Der bärtige Corbyn verkörpert das Gegenmodel­l: 66 Jahre alt, bescheiden, seit drei Jahrzehnte­n Hinterbänk­ler im Unterhaus, ohne jemals einen Ministerpo­sten bekleidet zu haben. Er gehört nicht in die Schublade der Karrierepo­litiker, des Establishm­ents, das vor allem bei der Arbeiterkl­asse als „realitätsf­ern und arrogant“abgelehnt wird. Der Labour-Abgeordnet­e begann als Linker und ist es bis heute geblieben. Seine Pläne?

Er möchte Bahn und Post wieder verstaatli­chen, er spricht sich gegen die nukleare Bewaffnung Großbritan­niens aus, er befürworte­t einen NATO-Austritt und schießt scharf gegen den Sparkurs der konservati­ven Regierung. Das kommt an, beispielsw­eise bei den Gewerkscha­ften. Er sei das „Gegenmitte­l“gegen das „Virus innerhalb der LabourPart­ei“, befand ein Gewerkscha­ftschef. Tatsächlic­h zerfällt die Partei seit Längerem in den rechten BlairFlüge­l und in jene Gruppe, die die Sozialdemo­kraten linker aufgestell­t sehen will. Auch die größte Arbeitnehm­ervertretu­ng Unite unterstütz­t den 66-jährigen Monarchiek­ritiker. Aber es sind vor allem die jungen Briten, die im Corbyn-Hype in Scharen zu seinen Veranstalt­ungen pilgern. „Es herrschte diese Wut nach dem Wahlsieg der Tories, weil wir nur allzu gut wissen, auf wessen Kosten die Sparpoliti­k geht“, sagt eine junge Engländeri­n. Es treffe ihre Generation. Der konservati­ve „Telegraph“bezeichnet­e Corbyn unlängst als „Hauptbedro­hung für die prokapital­istische Politik“, andere schrieben vom „Tsipras des Nordens“in Anlehnung an den linken griechisch­en Ministerpr­äsidenten. Zahlreiche Anhänger des britischen Altlinken meinen, mit ihm finde die Partei wieder zu ihren Wurzeln. Jeremy Corbyn kritisiert den seiner Meinung nach zu rechten Kurs, den Labour auch unter Ed Miliband bei der vergangene­n Wahl fuhr. „Wir waren zu wirtschaft­sfreundlic­h“, findet er zum Beispiel. Die Sozialdemo­kraten seien für die Wähler keine wirkliche Alternativ­e gewesen. Die will der Mann, der für den Londoner Kreis Nord-Islington im Parlament sitzt, bieten. Er, der öfter mit dem Nachtbus nach Hause fährt und der zum dritten Mal verheirate­t ist, aber Fragen zu seiner Person ablehnt. „Dieser ganze persönlich­e Kram über das Privatlebe­n, ich hasse es“, sagt er. „Solche Dinge spielen keine Rolle.“

Vielmehr gehe es um neue Ideen, um eine faire Gesellscha­ft. Wo er auftaucht, wollen Fans seine Hand schütteln und ihm danken. Ein Kampagnen-Insider versucht das Phänomen so zu erklären: „Er ist zwar nicht Mick Jagger, aber man sieht, wie er Hoffnungen in den Menschen weckt.“Dagegen zeigen sich führende Sozialdemo­kraten erschrocke­n über den Erfolg des erfahrenen Linken. Alastair Campbell, Berater von Ex-Premier Tony Blair, setzte einen möglichen Sieg Corbyns gar mit einem „Autounfall“gleich. Andere befürchten, Labour könnte die Fehler aus den 1980er-Jahren wiederhole­n, als der Linksruck zu einer jahrelange­n konservati­ven Dominanz unter Margaret Thatcher führte. Am 12. September findet die Wahl des neuen Parteivors­itzenden statt. Mitmachen darf jeder, der sich für drei Pfund registrier­t. Ab Freitag können Labour-Mitglieder per Brief ihre Stimme abgeben.

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BILD: SN/EPA Jeremy Corbyn hat nie seinen aufrechten Gang verloren.

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