Die Wirtschaftskammer plant Projekte für Flüchtlinge
Wirtschaftskammerpräsident Leitl fordert beim Thema Asylbewerber mehr Offensive, „denn wir werden deren Talente noch brauchen“. Außenminister Kurz droht mit schärferem Kurs.
Aus der Wirtschaft war bisher zum Thema Flüchtlinge wenig zu hören. Ganz anders als in Deutschland, wo die Debatte über die Chancen, die zugewanderte Menschen für die Wirtschaft neben all den Problemen bedeuten können, geführt wird. Der Präsident der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, kündigte im SN-Interview nun konkrete Schritte an. So werde man bereits in den nächsten Wochen Projekte in der Öffentlichkeit vorstellen, über die junge Flüchtlinge ausgebildet werden können beziehungsweise die zur Integration im Beschäftigungsbereich beitragen. Leitl fordert Offensiven statt die defensive Behandlung des Themas. „Wir müssen erkennen, dass die Be- gabungen und Talente dieser Menschen für uns eines Tages noch sehr, sehr wertvoll sein werden. Wir werden sie noch brauchen“, sagt e Leitl.
Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) droht indessen mit einer schärferen österreichischen Asylpolitik, wenn es zu keiner europäischen Lösung mit einer besseren Verteilung der Flüchtlinge in der EU kommt. Denkbar wären für diesen Fall etwa „Blitzverfahren“, bei denen festgestellt würde, ob der Asylwerber nicht durch ein sicheres Land nach Österreich gekommen sei, meinte Kurz in der „ZiB2“. Mit der europäischen Lösungskompetenz beschäftigt sich unter anderem auch die Westbalkankonferenz in Wien.
Heute, Donnerstag, findet in Wien die mittlerweile zweite WestbalkanKonferenz statt. Das von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker angestoßene Treffen soll dazu dienen, Serbien, Albanien, Mazedonien, Bosnien, Montenegro und den Kosovo darüber hinwegzutrösten, dass es vorerst keine Chance auf eine EU-Mitgliedschaft gibt, aber trotzdem eine Beitrittsperspektive offenhalten. Der bosnischösterreichische Politologe Vedran Dzihic sieht wenig Grund zur Freude. SN: Die Konferenz wird vom Flüchtlingsproblem überschattet. Wird das Treffen eine Lösung bringen? Dzihic: Vermutlich nicht. Die Flüchtlingspolitik am Westbalkan ist ein Spiegelbild der EU-Flüchtlingspolitik. Ich sehe bei den EUStaaten keine Bereitschaft, diese Politik zu ändern. Natürlich wird die EU jetzt mehr Geld für Länder wie Mazedonien und Serbien lockermachen und ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen, aber langfristig sehe ich keine Änderung. SN: Welche Auswirkungen hat die Flüchtlingsproblematik auf den Westbalkan? Mit der Verhängung des Ausnahmezustands in Mazedonien hat die Regierung zugegeben, dass sie nicht mehr Herr der Lage ist. In Serbien ist die Lage noch dramatischer, nur geht Regierungschef Aleksandar Vucic damit anders um. Mit der Eröffnung neuer Unterkünfte für Flüchtlinge versucht er der EU zu zeigen, schaut her, wir sind solidarisch, wir gehen mit der Situation anders um. Da ist sicher auch das Kalkül, mehr bei den EU-Verhandlungen rauszuholen. SN: Auch aus den Ländern des Westbalkans selbst fliehen die Menschen massenweise. Warum? Die wirtschaftliche und soziale Misere dauert seit Jahren an, die Aussichten auf Besserung sind eher mager. Die Liste der Probleme ist lang: Arbeitslosigkeit, ineffiziente und überdimensionierte Verwaltung, schlechte soziale Netze, hohe Defizite. Hinzu kommt, dass die Region politisch an einem Scheideweg steht. In den vergangenen Jahren sind in nahezu allen Staaten des Westbalkans autoritäre Tendenzen stärker geworden. Viele Menschen verlieren das Vertrauen in ihre Regierungen und Institutionen, sie haben keine Geduld und keine Lebenskraft mehr. SN: Bei der Westbalkan-Konferenz geht es eigentlich um eine Initiative, mit der die EU-Perspektive der Region gefördert werden soll. Zeichnet sich eine Wende ab? Es gibt bisher nur eine Wende, die sich aus neuen Ängsten der EU bzw. einiger Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Österreich speist. Konkret geht es um die Angst vor den Flüchtlingen, vor dem Wachsen des russischen Einflusses am Balkan und vor dem möglichen Erstarken des radikalen Islams. Ob das zu einer Wende in der WestbalkanPolitik führt, wird man erst in den Monaten nach dem Wiener Gipfel beurteilen können. SN: Vielen Beobachtern zufolge hat die EU lang nur Wert auf Stabilität in der Region gelegt. Teilen Sie diese Ansicht? Ja, die EU hat zu viele Kompromisse mit den herrschenden Eliten gemacht, um Sicherheit und Stabilität zu wahren. Die EU betrieb und betreibt ein technokratisches „business as usual“: ein wenig Reformen, da und dort Druck, gebetsmühlenartiges Wiederholen der Hausaufgaben, die die Staaten zu erledigen haben, und das immer leiser ausgesprochene Versprechen, dass die Zukunft des Balkans in der EU liegt. Das hat zu einem spiegelbildartigen Prozess geführt, in dem die alten Eliten ebenfalls ein solches Spiel betreiben – sie versprechen Reformen, setzen da und dort welche um, aber nie zu viele, sie sprechen von Demokratie und ruinieren sie oft durch ihr Handeln. SN: In den sozialen Protesten in Bosnien-Herzegowina im vergangenen Jahr oder in der Schüler- und Studentenbewegung in Mazedonien sieht man Nationalitäten und Ethnien nebeneinander kämpfen. Wie beurteilen Sie diese Bewegungen? Diese Protestformen sind die wichtigste demokratiepolitische Entwicklung in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Dass den unverantwortlichen Politikern lautstark mitgeteilt wird, dass man Missstände nicht mehr dulden will, ist Teil des Erwachsenwerdens und der Emanzipation der Gesellschaften. Bosnien 2014 und Skopje 2015 sind meiner Meinung und Hoffnung nach der Beginn eines Hinterfragens der schlechten Politik am Balkan, der zu mehr Freiheit und besserem Leben führen kann. Zur Person: Vedran Dzihic, 38, ist Politologe an der Universität Wien und Autor zahlreicher Bücher, Beiträge und Artikel in internationalen wissenschaftlichen Journalen und Medien. Er wurde in Prijedor in BosnienHerzegowina geboren und lebt seit 1993 in Wien.