Mehr als tausend Seiten voller irrer Sätze
Für die Romanwelten des 32-jährigen Grazers Clemens Setz braucht man viel Zeit.
WIEN. „Tapire haben Rüssel, die aussehen wie echte Rüssel.“Oder: „Frauen sind verkleidete Gitarren.“Solche Sätze finden sich in dem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“immer wieder. Irre Sätze in einem irren Buch, für das man sich Zeit nehmen muss. Jedes Ding hat zwei Seiten, heißt es. Dieses Buch hat 1021. „Mir kommt vor, es ist nicht zu lang“, sagt Setz.
Der 32-jährige Grazer Clemens J. Setz hat eine unglaubliche Karriere hingelegt. Im Drei-Jahres-Abstand wird er für den Deutschen Buchpreis nominiert. Nach „Die Frequenzen“(2009) und „Indigo“(2012) hat er es auch mit dem neuen Buch, an dem er vier Jahre gearbeitet hat, in die Auswahl geschafft.
Es ist ein Buch, das Respekt abringt, aber auch anstrengt. Das über vielschichtige, geheimnisvolle Figuren verfügt, deren Verstrickungen in sich selbst und miteinander tatsächlich den Plot für einen Psychothriller ergeben könnten. Das mit unglaublichen, überraschenden Formulierungen aufwartet, für die allein es sich schon lohnen würde. Das aber auch viele erzählerische Durststrecken und manche retardierende Momente hat.
Schauplatz ist eine „Villa Koselbruch“in Graz, ein Wohnheim für Menschen mit Behinderungen, betreutes Wohnen für Menschen, die anders sind als alle anderen. Doch die „Bezugis“sind auch nicht so viel anders als ihre Bezugsbetreuer. Natalie Reinegger etwa, Neuzugang beim sonderpädagogischen Personal: „Sie war zwar erst einundzwanzig, aber auch sie hatte sich über die Jahre einige klare Grenzen wachsen lassen“, heißt es über sie. Sie lebt allein, hält aber noch per Chat-Konversationen mit ihrem Ex Kontakt.
Natalie lebt als Epileptikerin in der Angst vor dem nächsten „Grand-Mal-Anfall“. Ihre Freizeit verbringt sie zunächst mit „Streunen“. Sie bietet sich scheinbar wahllos überraschten Männern für den Oralverkehr an. Blowjobs und Livesendungen geben ihr Halt in ei- ner haltlosen Welt, ebenso das Aufzeichnen von Gesprächen oder Essgeräuschen. Die Aufnahmefunktion ihres iPhones ist in Dauerbetrieb. Allmählich nimmt ihre Arbeit, wo sie als gewissenhafte Betreuerin einen super Job macht, ganz von ihrem Leben Besitz. Denn auch dort geht es drunter und drüber – aber nur solange man nicht hinter die geheime Ordnung des scheinbaren Chaos kommt. Und genau darum geht es eigentlich in dem Buch.
Natalie ist der glatte Wahnsinn. Mit ihren Gewaltfantasien und Neurosen, Freizeitvergnügen und Überlebensstrategien ist sie ein Kontinent, der erst im Laufe des Buches erforscht wird. Diese Expedition bringt für den Leser immer wieder Überraschungen und neue Erfahrungen und ist der Motor, der die Lektüre auch dann in Gang hält, wenn die sonstige Lage nicht so superspannend ist. Männer sind meist überfordert von ihr. Natalie mag das: „Schüchterne Männer waren unerträglich süß, man wollte sie am liebsten einpacken und in einem kleinen Korb nach Hause tragen.“
Der Einzige, der ihr das Wasser reichen kann, ist Christoph Hollberg. Er wird in jenem Beziehungsdreieck, das im Zentrum des Romans steht, ihr Gegenspieler. Hollberg wurde von einem im Rollstuhl sitzenden Mann gestalkt. Dieser, Alexander Dorm, hat offenbar Hollbergs Frau in den Selbstmord getrieben, wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und wird nun im Heim von Natalie betreut. In einem verqueren „Arrangement“, das von der Heimleitung mitgetragen wird, hat Hollberg jedoch den Spieß umgedreht: Er besucht Dorm regelmäßig, verhält sich dabei herablassend und verletzend und ist doch dessen einziger Kontakt zur Außenwelt. Gemeiner Psychoterror aus Rache oder ein emotionaler DoubleBind zu beiderseitigem Vorteil? Natalie versucht dahinterzukommen und wird zunehmend selbst Opfer von Hollbergs Übergriffen. Bis es zu einem filmartigen Showdown kommt.
„Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“erzählt aber nicht nur von den unergründlich scheinenden Tiefen und Untiefen der menschlichen Psyche, sondern auch vom sozialen Zusammenleben. Setz hat seine eigenen Erfahrungen als Heimhelfer einfließen lassen.
Vor allem aber findet er immer wieder Sätze, Ausdrücke, Wendungen und Dialoge, die alles stoppen. Die innehalten lassen und nach mehrmaliger Lektüre verlangen. Es geht auch Natalie immer wieder um das Finden der richtigen Sätze. Auch in höchster Not kann der eine richtige Satz alles richten, obwohl er wie totaler Nonsens wirkt – weil er Ordnungen außer Kraft setzt und die Dinge neu ausrichtet. Setz hat viele richtige Sätze gefunden.
„Mir kommt vor, dieses Buch ist nicht zu lang.“
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