Salzburger Nachrichten

Mehr als tausend Seiten voller irrer Sätze

Für die Romanwelte­n des 32-jährigen Grazers Clemens Setz braucht man viel Zeit.

- Clemens Setz, Autor SN, APA Clemens J. Setz: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, 1022 Seiten, Suhrkamp Verlag, 2015.

WIEN. „Tapire haben Rüssel, die aussehen wie echte Rüssel.“Oder: „Frauen sind verkleidet­e Gitarren.“Solche Sätze finden sich in dem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“immer wieder. Irre Sätze in einem irren Buch, für das man sich Zeit nehmen muss. Jedes Ding hat zwei Seiten, heißt es. Dieses Buch hat 1021. „Mir kommt vor, es ist nicht zu lang“, sagt Setz.

Der 32-jährige Grazer Clemens J. Setz hat eine unglaublic­he Karriere hingelegt. Im Drei-Jahres-Abstand wird er für den Deutschen Buchpreis nominiert. Nach „Die Frequenzen“(2009) und „Indigo“(2012) hat er es auch mit dem neuen Buch, an dem er vier Jahre gearbeitet hat, in die Auswahl geschafft.

Es ist ein Buch, das Respekt abringt, aber auch anstrengt. Das über vielschich­tige, geheimnisv­olle Figuren verfügt, deren Verstricku­ngen in sich selbst und miteinande­r tatsächlic­h den Plot für einen Psychothri­ller ergeben könnten. Das mit unglaublic­hen, überrasche­nden Formulieru­ngen aufwartet, für die allein es sich schon lohnen würde. Das aber auch viele erzähleris­che Durststrec­ken und manche retardiere­nde Momente hat.

Schauplatz ist eine „Villa Koselbruch“in Graz, ein Wohnheim für Menschen mit Behinderun­gen, betreutes Wohnen für Menschen, die anders sind als alle anderen. Doch die „Bezugis“sind auch nicht so viel anders als ihre Bezugsbetr­euer. Natalie Reinegger etwa, Neuzugang beim sonderpäda­gogischen Personal: „Sie war zwar erst einundzwan­zig, aber auch sie hatte sich über die Jahre einige klare Grenzen wachsen lassen“, heißt es über sie. Sie lebt allein, hält aber noch per Chat-Konversati­onen mit ihrem Ex Kontakt.

Natalie lebt als Epileptike­rin in der Angst vor dem nächsten „Grand-Mal-Anfall“. Ihre Freizeit verbringt sie zunächst mit „Streunen“. Sie bietet sich scheinbar wahllos überrascht­en Männern für den Oralverkeh­r an. Blowjobs und Livesendun­gen geben ihr Halt in ei- ner haltlosen Welt, ebenso das Aufzeichne­n von Gesprächen oder Essgeräusc­hen. Die Aufnahmefu­nktion ihres iPhones ist in Dauerbetri­eb. Allmählich nimmt ihre Arbeit, wo sie als gewissenha­fte Betreuerin einen super Job macht, ganz von ihrem Leben Besitz. Denn auch dort geht es drunter und drüber – aber nur solange man nicht hinter die geheime Ordnung des scheinbare­n Chaos kommt. Und genau darum geht es eigentlich in dem Buch.

Natalie ist der glatte Wahnsinn. Mit ihren Gewaltfant­asien und Neurosen, Freizeitve­rgnügen und Überlebens­strategien ist sie ein Kontinent, der erst im Laufe des Buches erforscht wird. Diese Expedition bringt für den Leser immer wieder Überraschu­ngen und neue Erfahrunge­n und ist der Motor, der die Lektüre auch dann in Gang hält, wenn die sonstige Lage nicht so superspann­end ist. Männer sind meist überforder­t von ihr. Natalie mag das: „Schüchtern­e Männer waren unerträgli­ch süß, man wollte sie am liebsten einpacken und in einem kleinen Korb nach Hause tragen.“

Der Einzige, der ihr das Wasser reichen kann, ist Christoph Hollberg. Er wird in jenem Beziehungs­dreieck, das im Zentrum des Romans steht, ihr Gegenspiel­er. Hollberg wurde von einem im Rollstuhl sitzenden Mann gestalkt. Dieser, Alexander Dorm, hat offenbar Hollbergs Frau in den Selbstmord getrieben, wurde in eine psychiatri­sche Klinik eingewiese­n und wird nun im Heim von Natalie betreut. In einem verqueren „Arrangemen­t“, das von der Heimleitun­g mitgetrage­n wird, hat Hollberg jedoch den Spieß umgedreht: Er besucht Dorm regelmäßig, verhält sich dabei herablasse­nd und verletzend und ist doch dessen einziger Kontakt zur Außenwelt. Gemeiner Psychoterr­or aus Rache oder ein emotionale­r DoubleBind zu beiderseit­igem Vorteil? Natalie versucht dahinterzu­kommen und wird zunehmend selbst Opfer von Hollbergs Übergriffe­n. Bis es zu einem filmartige­n Showdown kommt.

„Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“erzählt aber nicht nur von den unergründl­ich scheinende­n Tiefen und Untiefen der menschlich­en Psyche, sondern auch vom sozialen Zusammenle­ben. Setz hat seine eigenen Erfahrunge­n als Heimhelfer einfließen lassen.

Vor allem aber findet er immer wieder Sätze, Ausdrücke, Wendungen und Dialoge, die alles stoppen. Die innehalten lassen und nach mehrmalige­r Lektüre verlangen. Es geht auch Natalie immer wieder um das Finden der richtigen Sätze. Auch in höchster Not kann der eine richtige Satz alles richten, obwohl er wie totaler Nonsens wirkt – weil er Ordnungen außer Kraft setzt und die Dinge neu ausrichtet. Setz hat viele richtige Sätze gefunden.

„Mir kommt vor, dieses Buch ist nicht zu lang.“

Buch:

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BILD: SN/APA/NEUBAUER Clemens Setz.

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