„Befriedigung der kollektiven Angstlust“
Ein Lkw mit 71 toten Flüchtlingen. Wie reagieren die Medien? Einige verpixeln die Aufschrift des Autos, andere zeigen die Leichen.
Die aktuelle Flüchtlingstragödie produziert erschütternde Bilder – etwa Fotos, die erstickte Flüchtlinge im Laderaum eines Lkw zeigen. Auch das Foto eines ertrunkenen Buben am Strand schockiert.
Diese Bilder, die aufrütteln, werden von einigen Medien abgedruckt, andere lehnen dies kategorisch ab. Darf man emotionalisierende Bilder, die das Leid anderer thematisieren, veröffentlichen? Die SN haben beim Fotohistoriker Anton Holzer nachgefragt. SN: Was waren Ihre ersten Gedanken beim Betrachten des Fotos, das die toten Flüchtlinge im Lkw gezeigt hat? Holzer: Dass die Veröffentlichung nicht akzeptabel ist. Weil dadurch dem Wissen über die Dramatik des Flüchtlingsschicksals nichts hinzugefügt wird. Es handelt sich in Wahrheit bloß um einen Akt des Voyeurismus. Hier ist man einfach zu weit gegangen. Es war ja zudem ein Foto, das der internen Polizeidokumentation hätte dienen sollen. Das Bild hätte nie für ein Boulevardmedium freigegeben werden dürfen. Da ist auch Selbstkritik in der Polizei nötig. Ich habe beim Betrachten des Bildes großes Unbehagen verspürt. SN: Hätten Sie weniger Unbehagen verspürt, wäre es in einem Medium der Qualitätspresse erschienen? Natürlich ist der Kontext wichtig, wo und wie so ein Bild abgedruckt wird. In einem Medium wie der „Kronen Zeitung“erscheint das Foto wie ein eindimensionaler Blickfang zur Maximierung der Leserschaft. Es ist ein Unterschied, wenn das Bild unter dem Aspekt einer aufklärerischen Diskussion über das Flüchtlingsleid erschienen wäre. Wichtig wäre auch eine Auseinandersetzung über die Bedeutung des Bildes gewesen, eine ernsthafte Diskussion, ob man so etwas zeigen darf, kann und soll. Im konkreten Fall hatte das Bild aber bloß den Zweck, die Zeitung zu verkaufen. SN: Kann man in unserer Bildergesellschaft das Zeigen von Bildern verbieten? Interessant ist, dass auch in den sozialen Netzwerken wie Facebook nackte Haut und Sexualität tabu sind, dass es bei Gewalt aber keine Grenzen gibt. Natürlich können wir nicht so tun, als ob diese Bilder nicht existieren würden, aber ein behutsamer Umgang mit Bildern wäre angebracht.
„Ich habe Unbehagen verspürt.“
SN: Wie beurteilen Sie den Umgang der heimischen Presselandschaft mit Bildern, die tote Menschen zeigen? Es gibt in der Qualitätspresse eine selbst auferlegte Zurückhaltung beim Zeigen von Todesopfern. Diese Leitlinie würde ich als richtig beurteilen. Welchen Wert es hat, eine Großaufnahme aus dem Inneren des Schlepper-Lkw zu veröffentlichen, erschließt sich mir nicht. Mir ist aber bewusst, dass es ein schmaler Grat ist, auf dem man entscheiden muss, was man zeigen kann und was nicht. Es gibt moralische Grenzen. SN: Der Altösterreicher Arthur „Weegee“Fellig ist in Amerika durch seine Fotos von toten Verbrechensopfern berühmt geworden. Seine Bilder sind heute Kunstwerke. Wie lässt sich das einordnen? Weegee hat in den 1940er- und 1950er-Jahren den Hunger nach Voyeurismus gestillt, seine Fotos wurden aber auch nur von der Boulevard-Tagespresse veröffentlicht. Diesen Zeitungen ist es auch nur um Lesermaximierung gegangen, um dieses Ziel zu erreichen, war ihnen jedes Mittel recht. Weegee hatte das Glück, dass er später vom amerikanischen Museumsbetrieb entdeckt worden ist. SN: Welche Fotos in der heimischen Pressegeschichte waren große Aufreger? Ab etwa 1890 haben Wochenzeitungen Fotos abgedruckt. Zeitungen waren früher textlastig ohne Bilder, heute gibt es oft bildlastige Seiten ohne Text. Um die Jahrhundertwende wurden erste Darstellungen von Mordszenen veröffentlicht, dies wurde aber nicht als anstößig beurteilt. Anstößig war hingegen alles, was mit Sexualität zu tun hatte. SN: Es gab keine großen Erregungen? Österreich war ein konservatives Land, auch in der Pressefotografie. Gut, es gab Fotos von Massenhinrichtungen am Galgen aus Ost- und Südeuropa durch die k. u. k. Armee in den Zeitungen. Der Akt des Hinrichtens von „Verrätern“und „Spio- nen“wurde in diesen Propagandafotos dabei zelebriert. SN: Das klingt nach einer Parallele zur Strategie der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Das stimmt, der IS agiert heute ähnlich, freilich in einer zeitgemäßen und sehr professionellen Art und Weise. Dieser aggressive Medienkrieg mit Fotos ist aber nicht neu, er wurde im Ersten Weltkrieg erstmals geführt, im 19. Jahrhundert gab es das nicht. SN: Die amerikanische Autorin Susan Sontag vertritt in ihrem Buch „Das Leiden der anderen betrachten“die These, wonach das Veröffentlichen drastischer Bilder wichtig sei, um Veränderungen zu bewirken. Susan Sontag hat eine Läuterung durchgemacht. Ursprünglich hatte sie dafür plädiert, dem Voyeurismus Einhalt zu gebieten. Nach einer persönlichen Erfahrung – sie hielt sich während des Jugoslawienkrieges in Sarajevo auf – änderte sie ihre Haltung radikal. In dieser Extremsituation kam sie zum Schluss, dass es wichtig sei, Bilder vom Krieg zu publizieren, um dem Sich-Abschlachten ein Ende zu bereiten. SN: Die deutsche „Bild“-Zeitung hat am Donnerstag ein Foto eines toten, an den Strand gespülten Buben veröffentlicht. Ist das im Sinne von Susan Sontag? Hier sind wir wieder bei der Kon- textfrage. Die „Bild“-Zeitung hat Lesermaximierung und nicht Aufklärung zum Ziel. In Österreich gab es im Vorjahr 35 diesbezügliche Verurteilungen durch den Presserat. Diese haben ausschließlich Boulevardmedien betroffen. Dazu kommt, dass alle diese Medien üblicherweise ja nicht durch eine sensible und differenzierte Berichterstattung in der Flüchtlingsthematik aufgefallen sind. SN: Ein Geschäft mit dem Voyeurismus also? Ja, absolut. Es gibt das Phänomen einer kollektiven Angstlust. Und manche Medien testen diese gesellschaftliche Tabuzone ganz bewusst aus: Hinschauen, wo man eigentlich nicht hinschauen darf. Das betrifft das Thema Sexualität ebenso wie jenes des Todes.