Erdogan schickt seine Anhänger gegen Kurden los
Auch die Zentrale der regierungskritischen Tageszeitung „Hürriyet“wurde zum Ziel von Randalierern.
ANKARA. Nachdem die kurdische Rebellenbewegung PKK in den vergangenen drei Tagen bei Angriffen im Südosten der Türkei mehr als 30 Soldaten und Polizisten getötet hatte, kam es in zahlreichen türkischen Städten zu Demonstrationen und Übergriffen gegen kurdische Einrichtungen.
Die Proteste richten sich zunehmend auch gegen die gemäßigte prokurdische Partei HDP, die es bei der Wahl im Juni mit rund 13 Prozent der Stimmen erstmals ins Parlament schaffte. Die HDP erhielt Zuspruch weit über die traditionelle kurdische Klientel hinaus. In Ankara steckten Demonstranten das Hauptquartier der HDP in Brand. Auch in zahlreichen anderen Städten gab es Angriffe nationalistischer Randalierer auf Kurden, HDPBüros und andere kurdische Einrichtungen. Amateurvideos in sozialen Netzwerken zeigten Plünderungen kurdischer Geschäfte. HDPChef Selahattin Demirtas sprach von mehr als 400 Übergriffen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Premier Ahmet Davutoglu stellen die HDP als politischen Arm der PKK dar. Durch den Wahlerfolg der HDP im Juni verlor ihre islamisch-konservative Regierungspartei AKP, die das Land seit 2002 regiert, erstmals ihre absolute Mehrheit. Nun soll am 1. November erneut gewählt werden.
HDP-Chef Demirtas warnte bei einer Pressekonferenz in der Kurdenhochburg Diyarbakir, wegen der Sicherheitslage in der Region werde es unmöglich, die Wahlen abzuhalten: „Da kann man keine Wahlurnen aufstellen“, sagte er. Er machte die AKP für die Eskalation verantwortlich: „Die von langer Hand geplanten Angriffe werden von der Regierung gesteuert“, sagte er. Erdogan habe „eine Entscheidung für den Bürgerkrieg gefällt“. Der HDP-Politiker Ertugrul Kürkcü sprach von „Erdogans Kristallnacht“– eine Anspielung auf die antijüdischen Pogrome in Nazideutschland 1938. Doch nicht nur die HDP steht im Fadenkreuz.
Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen wurde auch die Zentrale der regierungskritischen Tageszeitung „Hürriyet“in Istanbul von Regierungsanhängern belagert und mit Steinwürfen attackiert. In Sincan bei Ankara wurde ein Büro der bürgerlichen Oppositionspartei CHP angegriffen. In der Islamistenhochburg Konya steckten Demonstranten vor dem örtlichen CHP-Büro zwei Autos in Brand. Die US-Botschaft in Ankara äußerte sich im Kurznachrichtendienst Twitter besorgt über die Welle der Gewalt, die das Land überrollt. Es sei „wichtig, dass alle politischen Parteien und Medien in gleichem Maße Schutz durch die Polizei erhalten“, twitterten die US-Diplomaten.
Nach den Attentaten der PKK hatten türkische Kampfflugzeuge zu Beginn der Woche mutmaßliche Stellungen der Guerilla im Nordirak bombardiert. Zugleich rückte die Türkei mit etwa 230 Elitesoldaten in das Nachbarland vor, um flüchtige PKK-Kämpfer zu verfolgen.
Kurdenpolitiker beschuldigen Erdogan und Davutoglu, sie heizten den Konflikt an, um von der Polarisierung bei der Wahl am 1. November zu profitieren. Nach der Parlamentswahl vom Juni hatte Erdogan den von ihm selbst vor einigen Jahren eingeleiteten Friedensprozess mit den Kurden für gescheitert erklärt. Als Schlüsselfigur der Verhandlungen galt der seit 1999 inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan, der 2013 die PKK zu einem Waffenstillstand bewegt hatte. Von Öcalan hat man seit über drei Monaten nichts mehr gehört. Er sitzt wieder in strikter Isolationshaft.
Die Neuwahl war nötig geworden, weil die Gespräche über die Bildung einer Koalition gescheitert sind – auf Geheiß Erdogans, wie Kritiker sagen. Erdogan und Davutoglu hoffen, bei dem Urnengang die absolute Mehrheit für ihre islamischkonservative AKP zurückgewinnen zu können. Damit bekäme Erdogan eine zweite Chance, seine Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm noch mehr Macht geben soll, umzusetzen. Er argumentiert, die Sicherheitslage verlange eine „starke Regierung“. Er spekuliert wohl damit, der prokurdischen HDP das Wasser abzugraben und nationalistische Stimmen zu gewinnen. Ob die Rechnung aufgeht, ist fraglich: Meinungsforscher sehen die HDP erneut bei 12 bis 14 Prozent.