Akira Ishii: Naikan und Shiatsu
Beim Nachdenken über die eigenen Eltern oder über andere wichtige Bezugspersonen im Leben dauert es meist nicht lange, bis allerlei Belastendes auftaucht: Hätten mein Vater oder meine Mutter mir nur mehr Selbstständigkeit zugetraut, wäre ich in meinem Lebensweg mutiger ausgeschritten! Die meisten werden einige solche Vorwürfe zusammenbringen. Doch aus diesem Kreis der Klagen gibt es kein Entrinnen. Denn niemand kann seine Vergangenheit ändern.
Der Japaner Akira Ishii versucht, die Spirale des Haderns mit der eigenen Herkunft zu durchbrechen. Die Methode, die er nach Europa gebracht hat, heißt Naikan (von japanisch nai = innen und kan = beobachten). Es ist eine Form der Meditation oder Innenschau, die von den Emotionen wegführen und die Realität bewusst machen will.
Das beginnt mit einer 180-GradWendung. Anstatt der Frage, was meine Mutter nicht für mich getan hat, dreht Naikan den Blickwinkel um. Die drei Fragen für die Selbstreflexion und die Innenschau lauten: 1. Was hat meine Mutter für mich getan (oder mein Vater oder eine andere zentrale Bezugsperson in meinem Leben)? – 2. Was habe ich für meine Mutter getan? – 3. Welche Schwierigkeiten habe ich meiner Mutter gemacht?
„Diese umgekehrte Fragestellung eröffnet einen ganz neuen Blick“, sagt Akira Ishii. „Wir meinen, es sei selbstverständlich, dass die Mutter alles für uns hätte machen müssen. Daher fragen wir in der Regel, was meine Mutter versäumt hat, was ich benötigt hätte, was sie mir nicht gegeben hat. Damit bleiben wir aber auf der Ebene der Emotionen und Vorwürfe stehen und können das alles, was wir als belastend erlebt haben, nicht loslassen.“
Naikan lenkt das Augenmerk weg von diesen Emotionen, hin auf die Realität. Die sieht der japanische Lehrer so: „Auch wenn die Mutter nur ein Mal in der Woche für mich gekocht hat, als ich ein Kind war, dann hat sie das ein Mal in der Woche für mich getan. Das ist die Realität, die sich 52 Mal im Jahr und 520 Mal in meinen ersten zehn Lebensjahren wiederholt hat.“
Dieses Hinschauen auf das, was geschehen ist, und nicht auf das, was versäumt wurde, ist nach Ansicht von Akira Ishii eine wesentliche Voraussetzung dafür, erwachsen und zufrieden zu werden. „Solange ich nur auf die Defizite schaue, bleibe ich in der Rolle des Kindes. Ich bin nicht selbstständig und erwachsen, sondern emotional abhängig von dem, was ich mir als Kind und junger Mensch mehr an Zuwendung gewünscht hätte.“
Damit die Umkehrung dieser Perspektive gelingt, heißt die zweite Frage „Was habe ich für meine Mutter getan?“. Viele sagen dann zum Beispiel über ihre Volksschulzeit, ich habe meine Aufgaben selbst gemacht, und sie meinen, dass sie damit auch schon etwas für ihre Mutter getan hätten, weil diese sich nicht um die Schulnoten kümmern musste. Der Naikan-Lehrer sieht das anders: „Die Realität ist, dass wir für uns selbst gelernt haben und nur selten etwas direkt für die Mutter gemacht haben, zum Beispiel einkaufen gehen, die Wäsche waschen, das Geschirr abtrocknen.“
Eher sei zu bedenken – das ist die dritte Frage –, welche Schwierigkeiten ich der Mutter gemacht habe: Wie oft habe ich sie als Baby in der Nacht geweckt? Wie oft hat sie auf mich warten müssen, weil ich etwas entdeckt hatte und stehen blieb? Wie oft kam ich am Abend zu spät heim und sie sorgte sich?
„Die Realität ist“, so Akira Ishii, „dass wir nicht hätten aufwachsen können, wenn niemand etwas für uns gemacht hätte. Wenn wir das einmal sehen und annehmen können, werden wir zufriedener, dankbarer und damit auch glücklicher.“
Damit sich diese neue Innenschau nicht zum unüberwindbar scheinenden Berg an Aufgaben auftürmt, geht Naikan in einzelnen lebensgeschichtlichen Abschnitten vor. Die drei Fragen werden immer auf einen Zeitraum von rund vier, fünf Jahren bezogen. „Man beginnt mit der Vorschulzeit und achtet konkret darauf, was die Mutter in diesen Jahren für mich getan hat. Als Nächstes frage ich mich das für die vier Jahre der Grundschule, dann für die erste Jugendzeit mit der Pubertät und so fort.“
Wenn sich jemand im Alter von 60 Jahren auf Naikan einlässt, kann das Leben in solchen Fünf-JahresSchritten betrachtet werden. Ist jemand erst 20 Jahre alt, empfehlen sich je zwei bis drei Jahre als Zeitraum der Realitätsbetrachtung.
„Durch Naikan wird das Gute, das wir in unserem Leben erkennen, mehr“, sagt Akira Ishii. „Damit wird der Ärger weniger. Das tut der Seele ebenso gut wie dem Körper.“ Naikan ist eine Methode der Innenschau, um das Selbst zu erforschen. In Verbindung mit Shiatsu trägt Naikan zur achtsamen, klientenzentrierten Haltung bei. Freitag, 11. September, 19 Uhr, Vortrag von Akira Ishii in der Naikido-Shiatsu Schule Salzburg, Rechtes Salzachufer 42, 5101 Bergheim. – Schnuppertag Shiatsu: Sonntag, 22. November, 10.00–18.00 Uhr. –Anmeldung: Ernst Stockinger, 0650/366 80 77,