Salzburger Nachrichten

Auch Kämpfer setzen sich ab

Es gibt zunehmend Deserteure aus den Reihen des „Islamische­n Staates“. Aber auch Soldaten aller anderen Parteien ziehen die Sicherheit in Europa vor.

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Usaid Barho war 14 Jahre alt, als er vom „Islamische­n Staat“rekrutiert wurde. „Sie haben versucht, mich davon zu überzeugen, dass Schiiten Ungläubige sind, die wir töten müssen“, erzählt er. „Andernfall­s würden sie meine Mutter vergewalti­gen“, so gab der aus Manjib, einer Ortschaft bei Aleppo, stammende junge Syrer zu Protokoll. Um sich abzusetzen, meldete sich Usaid für ein Selbstmord­attentat. Dann ging er zu einer schiitisch­en Moschee und „zeigte meinen Sprengstof­fgürtel, den ich nicht zünden wollte“.

Weil er viele Menschenle­ben rettete, wurde Usaid freigelass­en. Heute lebt der junge Mann in der Türkei. Er ist einer von 57 IS-Deserteure­n, die von Mitarbeite­rn des Internatio­nal Centre for the Study of Radicalisa­tion (ICSR) am Londoner King’s College zu den Gründen für ihren Ausstieg befragt wurden.

Als wichtigste­r Kritikpunk­t wird in der Fallstudie des renommiert­en Institutes das zügellose Töten sunnitisch­er Muslime genannt. Er habe Kreuzigung­en und die Steinigung mutmaßlich­er Ehebrecher gesehen, berichtet der aus Europa stammende Abu Ibrahim. Die Gräueltate­n stünden im krassen Gegensatz zu den Aufbruchss­timmung vermitteln­den Propaganda­videos der Terrormili­z, die den Kampf gegen das Assad-Regime sträflich vernachläs­sige. Stattdesse­n würden immer wieder Kämpfer aus den eigenen Reihen als vermeintli­che Spione entlarvt und bestialisc­h ermordet.

Ein weiterer Ausstiegsg­rund ist Korruption. IS-Anführer würden ausländisc­he Kämpfer häufig besser behandeln als lokale Araber. Der weitverbre­itete Rassismus, heißt es in der Studie, mache vielen Kämpfern offenbar mehr zu schaffen als die Brutalität der Miliz. DschihadKä­mpfer aus dem Westen beschwerte­n sich dagegen über die ka- tastrophal­en Lebensbedi­ngungen in den IS-Gebieten.

Man habe sie als Selbstmord­attentäter einsetzen oder bei Offensiven als Kanonenfut­ter missbrau- chen wollen, berichtet einer der 57 Befragten. Sie stammen aus 17 Ländern, darunter mehrere westeuropä­ische Staaten und Australien. Die Flucht in die sichere Türkei wird als schwierig und gefährlich beschriebe­n. Viele untergetau­chte IS-Kämpfer würden noch immer in Syrien oder dem Irak festsitzen. Sollten sie eines Tages wieder Europa erreichen, bedeute dies keinesfall­s die Akzeptanz demokratis­cher Werte, betonten die Autoren der Fallstudie. Sie registrier­ten zwar eine zunehmende Zahl von Deserteure­n. Ein klarer Trend wird daraus aber nicht abgeleitet.

Es sind vielmehr Angehörige aller in Syrien und dem Irak kämpfenden Parteien, die es gegenwärti­g nach Europa zieht. Auch die Gegner des sogenannte­n „Islamische­n Staates“sind erschöpft und desillusio­niert und haben keine Hoffnung auf Sieg mehr. Nach viereinhal­b Jahren Bürgerkrie­g nutzen viele die Chance, im Strom flüchtende­r Zivilisten unterzutau­chen. Erst in Europa verraten sie Journalist­en mitunter ihre wahre Identität, zeigen ihnen Bilder in voller Kampfmontu­r. Immer häufiger kommt es auch vor, dass syrische Flüchtling­e in Europa anhand von Twitter-Fotos oder YouTube-Videos als angebliche Kämpfer „enttarnt“werden.

Nach Erkenntnis­sen von Reuters-Journalist­en sind unter den Flüchtling­en auch zahlreiche syrische und irakische Soldaten sowie seit Kurzem auch Kämpfer der PKK-nahen YPG. Ihre Flucht hat dazu geführt, dass die Führung der syrischen Kurdenpart­ei junge Männer nicht mehr in die Türkei ausreisen lässt.

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BILD: SN/EPA Viele Soldaten legen ihre Uniform ab und gehen.

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