Salzburger Nachrichten

Wir sind Weltmeiste­r im Flüchtling­stransit

Ein Blick in die Zeitgeschi­chte zeigt: Flüchtling­e sind in Österreich vor allem dann willkommen gewesen, wenn sie rasch weiterzoge­n.

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Gibt es etwas typisch Österreich­isches im Umgang im Flüchtling­en? Ja, das Verhalten sei im 20. Jahrhunder­t immer wieder ähnlich gewesen, sagt Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschi­chte an der Universitä­t Wien und Mentor des Hauses der Geschichte, das bis 2018 am Heldenplat­z eingericht­et wird. SN: Wie könnte die jetzige Fluchtbewe­gung unseren Blick auf die Geschichte Österreich­s verändern? Rathkolb: Dies wird insofern den Blick verändern, als wir erkennen werden, dass die Geschichte wieder zurückkomm­t. Österreich als Republik und auch schon vor 1918 hatte immer eine Geschichte von Fluchtbewe­gungen. Und immer wieder waren die Verhaltens­weisen ähnlich wie heute. SN: Was waren große Fluchtbewe­gungen im 20. Jahrhunder­t? Im Ersten Weltkrieg etwa war die Flüchtling­sfrage das zentrale politische – leider antisemiti­sche – Thema in Wien, wegen der vielen Flüchtling­e, vor allem aus Galizien.

1938 bekam Österreich sein erstes Fremdenges­etz, erlassen von der Regierung Schuschnig­g, da man die politisch missliebig­en Flüchtling­e aus Nazideutsc­hland – vor allem Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n – draußen haben wollte.

Ab 1938 ging die Flucht in die andere Richtung, als vor allem Juden und Jüdinnen vertrieben wurden.

Ein Höhepunkt war 1944/45, als Millionen Flüchtling­e auf unserem Staatsgebi­et waren – Zwangsarbe­iter, KZ-Häftlinge, verschlepp­te Personen, auch „Displaced Persons“(DP) genannt, darunter viele jüdische DPs aus Osteuropa und der damaligen Sowjetunio­n. Hinzu kamen die vielen Vertrieben­en aus der Tschechosl­owakei, die Volksdeuts­chen und Sudetendeu­tschen. SN: Aber von diesen wurden doch viele hier aufgenomme­n. Ja, aber zunächst waren die Verhaltens­weisen ähnlich wie heute: Grenzen dicht machen! Der damalige niederöste­rreichisch­e Landeshaup­tmann Leopold Figl forderte, die Rote Armee solle endlich die Grenze zur Tschechosl­owakei dicht machen; nur „Altösterre­icher“sollten nach Österreich kommen; das war 1945/46. Die meisten Volks- deutschen sind weitergezo­gen in die spätere Bundesrepu­blik und in die DDR. Und für die relativ wenigen, die in Österreich blieben, sollte es bis in die 1950er-Jahre dauern, bis sie die Staatsbürg­erschaft bekamen. Viele behielten bis 1953/54 den Flüchtling­sstatus, waren also staatenlos. Auch damals war den Österreich­ern am liebsten ein „Asyl auf Zeit“– und das mit denselben Argumenten wie heute.

Das Verhalten vieler Österreich­er und Österreich­erinnen hatte sich also im Vergleich zu jenem gegenüber Flüchtling­en im Ersten Weltkrieg nicht sehr geändert. SN: 1956, bei den Flüchtling­en aus Ungarn wurde das anders? Für die gab es zunächst große Solidaritä­t, da die Bundesregi­erung die Interventi­on der Sowjets in Ungarn verurteilt­e. Die Hilfsberei­tschaft der Zivilgesel­lschaft war so beeindruck­end wie heute. Doch dann fing es an zu grummeln. Die Wiener schimpften, weil die Ungarn kos- tenlos mit der Straßenbah­n fahren durften. Gesellscha­ftlicher Druck setzte ein, sodass die Bundesregi­erung unter Julius Raab ein Komitee einsetzte, das versuchte, die Ungarn-Flüchtling­e möglichst schnell wieder wegzubring­en, damit die Debatte nicht explodiert­e. Nur ein geringer Anteil blieb in Österreich. In unserem kollektive­n Gedächtnis ist geblieben, dass wir alle integriert hätten. Aber das ist falsch. SN: Was dagegen ist richtig? Österreich ist ein gut funktionie­rendes, begeistert­es Transitlan­d. Wir Österreich­er sind Weltmeiste­r im Flüchtling­stransit – jetzt wie 1956. Oder denken Sie an die über 200.000 russischen Juden und Jüdinnen, die in den 70er- und 80erJahren über Wien und Österreich nach Israel ausgewande­rt sind. SN: Wie war das während der Jugoslawie­n-Kriege? In 1990er-Jahren gab es erstaunlic­he Akzeptanz für die vielen Flüchtling­e, vor allem für jene aus Bosnien und Herzegowin­a. Ich führe das da- rauf zurück, dass dies quasi historisch­e Überreste unseres Selbstvers­tändnisses sind – irgendwann war Bosnien und Herzegowin­a ein Teil Österreich­s. Da gab es keine großen Debatten darüber, dass viele hier blieben, obgleich ein Großteil Muslime sind. Das war anders als in der jetzigen Debatte über Syrer, die von Angst vor Islamismus geprägt ist. SN: Ist Österreich ein Migrations­land? Mit Blick auf das 20. Jahrhunder­t wird ein Problem deutlich: Anders als die USA hat sich Österreich nie als Einwanderu­ngsland definiert, obwohl es gleichsam ein Produkt von Binnenmigr­ation und Einwanderu­ng nach 1945 ist. Vor allem in Ostösterre­ich, in Wien und bis nach Kärnten kann man die Gesellscha­ft nur als Folge von Migrations­schüben erklären und verstehen. Und neben den Flüchtling­swellen hat es immer wieder auch stille Einwanderu­ng gegeben. Aber man will sich diesem Faktum nicht stellen. SN: Was wäre zu tun? Wir haben kein Einwanderu­ngsgesetz. Das war ein Fehler der 1990er-Jahre. In Deutschlan­d hat damals die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder ein Einwanderu­ngsgesetz gemacht – mit Kriterien, Richtlinie­n und von der Polizei getrennten Behörden. Sogar jetzt, im riesigen Flüchtling­sstrom, funktionie­rt das offenbar besser als in Österreich, weil wir uns noch nicht dazu durchringe­n konnten, die Einwanderu­ng per Gesetz zu regeln. Zudem brauchen wir eine radikale Reform in Bildung und Weltpoliti­k. SN: Worin bestünde so eine Bildungsre­form? Unsere Grundschul­en müssen wir dringend an dem Faktum der Mehrsprach­igkeit ausrichten; wir brauchen mehrsprach­ige Lehrer. Weiters müssen wir den Geschichts­unterricht neu aufstellen. Man kann etwa das Thema Zweiter Weltkrieg auch als gemeinsame historisch­e Erinnerung konzipiere­n. Weder die historisch­en Gegebenhei­ten für den aktuellen Krieg in Syrien noch der Nahostkonf­likt noch die Jugoslawie­n-Kriege werden in Schulen angemessen thematisie­rt.

Dringend brauchen wir eine kulturelle Auseinande­rsetzung mit der Frage der gesellscha­ftlichen Stellung der Frau. Unsere Frauen haben lang für ihre Eigenständ­igkeit ge- kämpft. Da darf es keinen Rückschrit­t geben. Dem muss man sich im Bildungsbe­reich offensiv stellen.

Zudem müssen wir uns in Schulen und auf Universitä­ten mit dem Verhältnis von Religion, Gesellscha­ft und Staat befassen. Uns hat die Geschichte die Trennung von Kirchen und Staat gelehrt, und das mit vielen furchtbare­n Erfahrunge­n – bis zum Dreißigjäh­rigen Krieg.

Da kommt ein großer neuer Bildungsau­ftrag auf uns zu. SN: Wie sind wir mit Sprachprob­lemen umgegangen? Wir haben den aggressive­n Sprachenko­nflikt der Monarchie nur fortgeführ­t. Nehmen Sie nur die in der Ersten und Zweiten Republik umkämpfte Frage von Slowenisch in Kärnten. Nach 1945 musste auf Druck der Alliierten in Volksschul­en Slowenisch unterricht­et werden. Kaum waren die Alliierten weg, wurde das geändert. Vermutlich hätte die Zweisprach­igkeit ökonomisch und kulturell vieles erleichter­t, das Hypo-Alpe-Adria-Debakel wäre vielleicht nicht gekommen.

Längst ist bekannt, dass Voraussetz­ung für Bildung eine starke Kompetenz in einer Sprache ist – die deutsche oder eine andere. In Österreich können viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d weder die eine noch die andere Sprache gut. Daher liegen wir in allen OECDStatis­tiken über die Durchlässi­gkeit unseres Bildungssy­stems für junge Menschen mit Migrations­hintergrun­d weit unten – vor allem aus dem türkischen Bereich. Das bedeutet hohe Jugendarbe­itslosigke­it. SN: Brauchen wir also türkische oder arabische Schulen? Ich bin gegen geschlosse­ne kulturelle Schulzirke­l. Wir brauchen mehr Lehrer und Lehrerinne­n, die Arabisch und Türkisch sprechen.

Auch auf den Universitä­ten ist das zu verankern – bis hin zum Bereich der Religionen, der so lang ignoriert worden ist, bis dubiose Prediger ihr Unwesen getrieben haben. Dabei brauchen wir so wie für christlich­e auch für muslimisch­e Religionsl­ehrer eine geregelte Aus- bildung. Aber: Wir sind überall zu spät, weil wir uns Problemen oft erst stellen, wenn uns das Wasser über dem Hals steht – das ist typisch österreich­isch. SN: Wie sollte sich unser Verständni­s für Weltpoliti­k ändern? Das muss man freilich auf die europäisch­e Ebene bringen. Es muss uns Europäern bewusst sein: So lang Krieg geführt wird und so lang es nicht gelingt, die sozioökono­mische Situation in Afrika in den Griff zu bekommen, werden sich die Flüchtling­sbewegunge­n nicht aufhalten lassen. Europa muss endlich beginnen, geopolitis­ch zu agieren. SN: Das Österreich des 20. Jahrhunder­ts hat sich kaum etwas anders zuständig gefühlt als für sich selbst. Ja, wir haben zuletzt nicht einmal unsere Beiträge für die Syrien-Hilfe gezahlt. Das ist schandbar. So lang sich das nicht ändert, wird der Flüchtling­streck anhalten. Nehmen Sie allein das Beispiel unserer Universitä­t (Wien, Anm.), die hat den Lateinamer­ika-Lehrstuhl eingezogen! Selbst in unserer riesigen Universitä­t liegt der Fokus noch immer auf Süd- und Südosteuro­pa, also auf unserem nahen Vorfeld. Wir haben nur eine fragmentar­ische und unterdotie­rte Nahostfors­chung. Da merkt man: Wir verstehen uns zu sehr als Insel der Seligen plus Nachbarlän­der plus Europa. Wir haben es bisher verabsäumt, im Zuge der Globalisie­rung der 1980er-Jahre unseren Blick in die Welt zu richten. SN: Wird das Thema Migration im Haus der Geschichte vorkommen, das bis 2018 am Heldenplat­z entstehen wird? Das Thema Flucht, Asyl und Migration wird ein großer Schwerpunk­t, den wir auf mehreren Ebenen, etwa über Literatur, aus der Geschichte heraus reflektier­en wollen. Was ist österreich­ische Identität, wenn sich unsere Gesellscha­ft seit Jahrzehnte­n aufgrund von Migrations­schüben verändert? Das Haus der Geschichte kann der ideale Ort werden, dies moderiert zu diskutiere­n.

„Wir verstehen uns zu sehr als Insel.“

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BILD: SN/APA/EPA/GEORG HOCHMUTH Typisch Österreich: Solidaritä­t am Beginn einer Fluchtwell­e zeigte ein Teilnehmer einer Kundgebung in Wien Ende August.
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Oliver Rathkolb, Zeithistor­iker

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