71 Besen, die den toten Flüchtlingen ein Grab schaffen sollen
Heute, Freitag, wird der steirische herbst in Graz eröffnet. Die Hauptausstellung zeichnet eine „Archäologie der Zukunft“.
GRAZ. Der Himmel hängt voller Besen. 71 Kehrgeräte aus den Beständen des in Graz unter „Bürstenilse“bekannten Traditionsgeschäfts scheinen über den Köpfen der Betrachter hinwegzuschweben. Die Installation des kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer trägt den Titel „71 brooms that never walk in Austria“. Spätestens jetzt weiß man, dass die Arbeit eine Anspielung auf jene 71 Flüchtlinge ist, die in einem im Burgenland abgestellten Lkw tot aufgefunden worden sind.
Geoffrey Farmer hat aus Aktualitätsgründen umdisponiert. Der Künstler nutzt die Ausstellung „Hall of Half-Life“im Festival steirischer herbst, das heute, Freitag, eröffnet wird, um dem unsagbaren Flüchtlingsleid ein Denkmal auf Zeit zu setzen. Farmer, der unter anderem durch die aus 16.000 Magazinfotos bestehende Installation „Leaves of Grass“auf der Documenta 13 einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte im Zuge eines internationalen Langzeitprojekts eine andere Raumgestaltung geplant. Am Beginn seiner Überlegungen habe ein Besen gestanden, „der einen Raum kehrt, um ein Grab zu schaffen“. Nun können 71 Gräber symbolisch geschaffen werden. Das Publikum ist eingeladen, die Besen von der Decke zu holen und im Raum aktiv zu werden.
Der 48-jährige Kanadier beantwortet auch gleich die Frage, ob Kunst auf aktuelle Geschehnisse reagieren soll. Natürlich spielt auch die Gegenwart in der von Tessa Giblin kuratierten herbst-Ausstellung, die eine „Archäologie der Zukunft“beschreiben soll, eine Rolle.
Vierzehn Künstlerinnen und Künstler machen sich im zum Festivalzentrum umfunktionierten Graz-Museum Gedanken darüber, wie sehr der Mensch in seine Umwelt eingreift, diese verändert, zerstört, was bleiben kann vom Indivi- duum und der Menschheit im Allgemeinen. Die Rückschau in die kollektive Vergangenheit kann zu Erkenntnisgewinnen führen, zu einem verbesserten Verstehen von Vorgängen und Prozessen. Mikhail Karikis Toninstallation, die auch im Schloßbergstollen erlebt werden kann, ist eine Art akustische Ursuppe, die das Werden und Vergehen zum Thema hat: Getöse, das auf lokale Sagenwelt ebenso Bezug nimmt wie auf Dantes Inferno.
In der dreiteiligen Videoinstallation „Landscape of Stopped Time“geht eine Japanerin durch eine Geisterstadt unweit von Fukushima. Die Natur hat sich durch üppigen Wuchs das von den Menschen verlassene Territorium zurückgeholt, im Kommentar zu den beklemmenden Bildern heißt es: „So sieht es aus, wenn die Zeit stehen bleibt.“Die Hilflosigkeit des Menschen im Umgang mit der Kernenergie wird auch in anderen Sequenzen des Films von Peter Galison & Robb Moss sichtbar. Zu den Höhepunkten der profund kuratierten, aber wohl nur über erklärende Texte vermittelbaren Schau zählt Harun Farockis Film „Übertragung“: Zu sehen sind Menschen, die Gedenkstätten besuchen und mit ihrer Körpersprache auf das (leidvolle) historische Geschehen reagieren.
Köpfe, die auf Steine gelegt werden, und andere Rituale zwischen Subjekt und Objekt: Sie zeugen von den Versuchen, das Unbegreifliche zu begreifen, mit der Last der Historie leben zu können. Diese Gesten bleiben dank der Kunst der Nachwelt erhalten. Vorerst zumindest.
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