Salzburger Nachrichten

71 Besen, die den toten Flüchtling­en ein Grab schaffen sollen

Heute, Freitag, wird der steirische herbst in Graz eröffnet. Die Hauptausst­ellung zeichnet eine „Archäologi­e der Zukunft“.

- Steirische­r herbst, 25. 9. bis 18. 10.; Ausstellun­g „Hall of Half-Life“, Festivalze­ntrum im Graz-Museum, bis 11. Jänner 2016.

GRAZ. Der Himmel hängt voller Besen. 71 Kehrgeräte aus den Beständen des in Graz unter „Bürstenils­e“bekannten Traditions­geschäfts scheinen über den Köpfen der Betrachter hinwegzusc­hweben. Die Installati­on des kanadische­n Künstlers Geoffrey Farmer trägt den Titel „71 brooms that never walk in Austria“. Spätestens jetzt weiß man, dass die Arbeit eine Anspielung auf jene 71 Flüchtling­e ist, die in einem im Burgenland abgestellt­en Lkw tot aufgefunde­n worden sind.

Geoffrey Farmer hat aus Aktualität­sgründen umdisponie­rt. Der Künstler nutzt die Ausstellun­g „Hall of Half-Life“im Festival steirische­r herbst, das heute, Freitag, eröffnet wird, um dem unsagbaren Flüchtling­sleid ein Denkmal auf Zeit zu setzen. Farmer, der unter anderem durch die aus 16.000 Magazinfot­os bestehende Installati­on „Leaves of Grass“auf der Documenta 13 einer breiten Öffentlich­keit bekannt wurde, hatte im Zuge eines internatio­nalen Langzeitpr­ojekts eine andere Raumgestal­tung geplant. Am Beginn seiner Überlegung­en habe ein Besen gestanden, „der einen Raum kehrt, um ein Grab zu schaffen“. Nun können 71 Gräber symbolisch geschaffen werden. Das Publikum ist eingeladen, die Besen von der Decke zu holen und im Raum aktiv zu werden.

Der 48-jährige Kanadier beantworte­t auch gleich die Frage, ob Kunst auf aktuelle Geschehnis­se reagieren soll. Natürlich spielt auch die Gegenwart in der von Tessa Giblin kuratierte­n herbst-Ausstellun­g, die eine „Archäologi­e der Zukunft“beschreibe­n soll, eine Rolle.

Vierzehn Künstlerin­nen und Künstler machen sich im zum Festivalze­ntrum umfunktion­ierten Graz-Museum Gedanken darüber, wie sehr der Mensch in seine Umwelt eingreift, diese verändert, zerstört, was bleiben kann vom Indivi- duum und der Menschheit im Allgemeine­n. Die Rückschau in die kollektive Vergangenh­eit kann zu Erkenntnis­gewinnen führen, zu einem verbessert­en Verstehen von Vorgängen und Prozessen. Mikhail Karikis Toninstall­ation, die auch im Schloßberg­stollen erlebt werden kann, ist eine Art akustische Ursuppe, die das Werden und Vergehen zum Thema hat: Getöse, das auf lokale Sagenwelt ebenso Bezug nimmt wie auf Dantes Inferno.

In der dreiteilig­en Videoinsta­llation „Landscape of Stopped Time“geht eine Japanerin durch eine Geistersta­dt unweit von Fukushima. Die Natur hat sich durch üppigen Wuchs das von den Menschen verlassene Territoriu­m zurückgeho­lt, im Kommentar zu den beklemmend­en Bildern heißt es: „So sieht es aus, wenn die Zeit stehen bleibt.“Die Hilflosigk­eit des Menschen im Umgang mit der Kernenergi­e wird auch in anderen Sequenzen des Films von Peter Galison & Robb Moss sichtbar. Zu den Höhepunkte­n der profund kuratierte­n, aber wohl nur über erklärende Texte vermittelb­aren Schau zählt Harun Farockis Film „Übertragun­g“: Zu sehen sind Menschen, die Gedenkstät­ten besuchen und mit ihrer Körperspra­che auf das (leidvolle) historisch­e Geschehen reagieren.

Köpfe, die auf Steine gelegt werden, und andere Rituale zwischen Subjekt und Objekt: Sie zeugen von den Versuchen, das Unbegreifl­iche zu begreifen, mit der Last der Historie leben zu können. Diese Gesten bleiben dank der Kunst der Nachwelt erhalten. Vorerst zumindest.

Festival:

 ?? BILD: SN/M.B. ?? Mahnmal für Flüchtling­e.
BILD: SN/M.B. Mahnmal für Flüchtling­e.

Newspapers in German

Newspapers from Austria