Mit dem Fahrrad über die kälteste Fluchtroute
Die Reise über das Mittelmeer ist lebensgefährlich. Deshalb wählen viele Flüchtlinge einen Umweg von 4500 Kilometern. Über Norwegen.
Wer derzeit ein Fahrradgeschäft in der russischen Kleinstadt Nikel, gelegen an der russisch-norwegischen Grenze, besitzt, macht das Geschäft seines Lebens. Denn ebendiese Grenze ist zu Fuß nicht passierbar. Es ist schlichtweg verboten. Nur mit einem Fahrzeug ist das Passieren erlaubt. Taxiund Busunternehmer aber machen sich strafbar, wenn sie Flüchtlinge mitnehmen. Also kaufen die Flüchtlinge Fahrräder.
Die Route über den Polarkreis ist ungewöhnlich, sie gewinnt aber rasant an Bedeutung, wie Jon Ole Martinsen von NOAS berichtet. NOAS ist eine NGO, die Asylsuchende in Norwegen unterstützt. „In diesem Jahr sind bisher etwa 5000 Flüchtlinge über diese Route nach Norwegen gekommen. Die täglichen Zahlen steigen. Gestern waren es 137. Die Route ist zwar lang, 4500 Kilometer sind es zwischen Syrien und der russisch-norwegischen Grenze, aber sie erscheint vielen Menschen weniger riskant. Man muss nicht in ein Boot steigen“, sagt Martinsen. Es sind sowohl Menschen, die schon einige Zeit in Russland gelebt haben, als auch Neuankömmlinge, die sich meist von Istanbul aus direkt auf den Weg hinter den Polarkreis machen. Nicht nur aus Syrien reisten Menschen an, sondern vermehrt auch aus Afghanistan oder Pakistan, sagt Martinsen.
In dem beschaulichen 6000-Seelen-Städtchen Storskog, das die Flüchtlinge dann in Norwegen erreichen, war man auf sie nicht vorbereitet. Storskog ist an der Europastraße 105 gelegen und der einzige Grenzübergang zwischen Russland und Norwegen. „Die Leute dort versuchten ihr Bestes, aber es gab Probleme, so schnell genügend Unterkünfte aufzustellen“, erzählt Jon Ole Martinsen. Die Flüchtlinge werden nun von Storskog aus per Bus in die Städte Kirkenes oder Hammerfest gebracht. Dort kommen sie in temporäre Unterkünfte und ihre Chance auf Asyl wird geprüft. Viele haben bereits in Russland um Asyl angesucht, wie sich dann herausstellt. Das Leben dort ist aber besonders für Syrer nicht einfach, wie Martinsen betont. „Syrer bekommen in Russland kaum einen der wenigen Plätze in Asylzentren, finanzielle oder materielle Hilfe gibt es nicht. Russland gewährt zudem den wenigsten Syrern Asyl. Manchmal heißt es, es bestehe keine Gefahr in ihrem Heimatland. Meist gibt es aber gar keine Begründung“, sagt Martinsen über die Vorgangsweise im Nachbarland, die beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte heftige Kritik auslöst und viele Flüchtlinge dazu bringt, in den nächsten Zug zu steigen. 35 Stunden von Moskau in den hohen Norden. Kostenpunkt: Ungefähr 40 Euro.
Die rechtskonservative Ministerpräsidentin Norwegens, Erna Solberg, will den regen Grenzverkehr nun eindämmen. Sie will vor allem Flüchtlinge ohne Schutzbedarf bereits an der Grenze stoppen. „Die wenigsten, die über die norwegisch-russische Grenze in Storskog einreisen, kommen tatsächlich aus Bürgerkriegsländern“, sagte Solberg am Freitag. Vielmehr hätten viele ein Aufenthaltsrecht in Russland und sollen nun möglichst schon am Schlagbaum abgewiesen werden. „Unsere grundsätzliche Haltung ist, dass Russland Menschen ohne Schengenvisum gar nicht erst über die Grenze lassen sollte“, sagt Solberg. Sie zielt mit dieser Warnung vor allem auf Afghanen, die inzwischen mehr als die Hälfte der Einreisenden ausmachen. Viele haben zuvor in Russland gelebt und versprechen sich in Norwegen ein besseres Leben. Die Forderung der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, die 196 Kilometer lange Grenze zu Russland zu sperren, wies Solberg jedoch zurück. „Über Nacht die Grenze zu schließen ist nicht die richtige Art, Menschen entgegenzukommen, die durch die Kälte gehen.“Minus sieben Grad hat es derzeit in Kirkenes.
Der Empfang der Flüchtlinge wird nicht nur wegen der fallenden Temperaturen kühler. „Es gibt Vorschläge, die Unterstützungsgelder für Flüchtlinge zu kürzen, Familiennachzug zu erschweren und ein Aufenthaltsrecht nach drei Jahren erneut zu prüfen, um den Betreffenden dann doch eventuell wieder rückführen zu können“, nennt Martinsen Vorschläge der Regierung zur Verschärfung des Asylrechts.
Etwa 25.000 Asylanträge wurden im laufenden Jahr in Norwegen gestellt. „Das ist zu bewältigen“, findet Martinsen. „Und es ist noch lang kein Grund für die Panik der Regierung. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nehmen wir sogar sehr wenige auf.“
Die Gesetzeslage in Norwegen erschwert nicht nur den Flüchtlingen ein Vorankommen. Hinter dem Grenzübergang Storskog sammeln sich die liegen gelassenen Fahrräder. 3500 wurden bisher verschrottet, teils noch mit Preisschildern versehen. „Die russischen Räder entsprechen nicht den Sicherheitskriterien, die hier in Norwegen gelten“, sagt Jon Ole Martinsen. „Sie sind nicht erlaubt.“
„3500 Fahrräder wurden bisher in Norwegen verschrottet.“