Ein Sherlock Holmes aus Asien
Wie der feinsinnige Filmdetektiv Charlie Chan den 1930er- und 1940er-Jahren einen Spiegel vorhielt, nicht nur hinsichtlich der kriminellen Energie jener Zeit, sondern auch der gesellschaftlichen (Un-)Sitten.
SALZBURG. Es gibt inzwischen so viele Kriminalfilmserien, dass ein Überblick kaum noch möglich ist. Aber es gibt auch solche, die sich ins Gedächtnis eingraben und nicht mehr zu vertreiben sind. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Reihen mit exotischen Ermittlern, selbst wenn dieser Effekt nur Maskenbildnern zu verdanken ist. Die Detektivfigur Charlie Chan, erdacht vom amerikanischen Schriftsteller Earl Derr Biggers (1884–1933) nach einem realen Vorbild, schaffte den Sprung vom Papier auf die Kinoleinwand in den 1930er-Jahren, zuvor sogar in einigen Streifen der Stummfilmzeit.
Das Besondere an Charlie Chan ist, dass sich aus den Filmen nicht nur schauspielerische und dramaturgische Eigenheiten jener Zeit ablesen lassen, sondern auch sozialkritische und gesellschaftliche Umstände. Mehr noch: Da Chan einerseits Chinese ist und andererseits in seinen Fällen Reisen in die halbe Welt unternimmt, wie heutzutage ein James Bond, sind die Handlungen von verschiedensten kulturellen Werten bestimmt. Dabei bleibt Chan immer der klassische Detektiv, der scharfsinnige Eigenbrötler und der gerissen bescheidene Taktiker: „Danke sehr, vielmals“ist einer seiner oft strapazierten Floskeln, die – so der Filmexperte Georg Seeßlen – „Höflichkeit, vorgetäuschte Unterwürfigkeit und Distanz gleichermaßen beinhaltet“.
Die Handlungen leben nicht nur von einem guten Drehbuch, sondern ganz besonders von der Persönlichkeit des Titelhelden. Nunmehr ist eine Sammlung sämtlicher Fälle von 1931 bis 1937 erschienen, in denen der schwedische Schauspieler Warner Oland (1879–1938) als Chan das Gute beschützt und dem Bösen auf den Pelz rückt. Oland hatte sich zuvor 1929 als erster Dr. Fu Man Chu bereits in der Filmgeschichte verewigt.
Aus der zeitlichen Distanz von 80 Jahren betrachtet, sind die besten dieser zwölf Filme auch erstaunlich modern wirkende Dokumente des Beginns der Tonfilmzeit. Die Spannungselemente sind vom jeweiligen Handlungsort bestimmt. Wenn Charlie Chan in London, Paris, Schanghai, in Ägypten, in Monte Carlo oder in Deutschland bei den Olympischen Spiele ermittelt, sind lokale Elemente berücksichtigt.
Erstaunlich selbstbewusst sind die Frauen, die zeitweise sogar dominant auftreten. In späteren Jahren benutzten gerade amerikanische Melodramen Frauen oft als Schmuck in einer männerbeherrschten Welt. Außerdem wird in Chan-Filmen der gesellschaftliche Kontrast von Reich und Arm schonungslos demonstriert, was seine Gründe auch in der damaligen Weltwirtschaftskrise haben dürfte.
Nicht zu entschuldigen sind allerdings die nicht seltenen Szenen mit farbigen Darstellern, die bestenfalls als Hofnarren dienen und deren intellektuelle Würde meist mit Füßen getreten wird. Humor wird hier als Blödelei missverstanden und auf Kosten von ohnehin vom Glück verlassenen Personen oder eben von Menschen mit anderer Hautfarbe eingebaut. Weiße Personen jeden Alters sind hingegen grundsätzlich gescheit, vernünftig und gebildet – angesichts des chinesischen Masterminds allerdings ein Widerspruch in sich.
Offenbar waren die Hollywoodstudios nicht in der Lage oder willens, sich der Rassendiskriminierung zu entziehen, die bis heute immer wieder ihre Fratze zeigt.
Zurück zu Chan als scharfsinnigem Beobachter, etwa in Ägypten, wo er in Luxor geheime, Klaustrophobie verursachende Gänge, Kammern und Nischen entdeckt, in denen Schätze aus Pyramiden verborgen sind. Dabei wirkt Chan stets bieder, aber souverän und jeglicher Störung sowie Aufregung abhold, weshalb ihn seine Gegner gern unterschätzen. Gleichwohl kann er sich auf die Unterstützung seines „Sohns Nummer eins“verlassen, mit dessen Hilfe er sich verkleidet und Fallen stellt, die manchmal auch den Zuschauer überraschen.
Nach Warner Oland setzte der Amerikaner Sidney Toler den Erfolg der Reihe bis 1946 fort, Gaststars waren unter anderen Rita Hayworth und Ray Milland. Nach Sidney Tolers Tod war Roland Winters bis 1949 der letzte Serien-Chan, wobei dessen Leistung als seinen Vorgängern nicht ebenbürtig gilt.
1981 versuchte sich Peter Ustinov glücklos als Charlie Chan.