Das Europa, wie wir es geträumt haben, löst sich auf
Die Zivilgesellschaft ist von der Politikgesellschaft nicht sehr angetan. Wir müssen an einem „Next Europe“arbeiten, das die Menschen mehr als bisher mitnimmt.
Der nicht abreißende Strom von Flüchtlingen nach Mitteleuropa hat die Europäische Union demaskiert: Sie ist heute nicht nur tatenlos, sondern visionslos, unsolidarisch und nicht in der Lage, koordiniert zu agieren. Der Flüchtlingsstrom aus Afrika nach Europa ist ja seit Langem bekannt und wird unheimlich. Nun stellt sich ein neuer Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten über den Balkan ein, ermuntert durch die Einladung der deutschen Bundeskanzlerin.
Die Problematik der Flüchtlingsbewegungen in Afrika hat als Ursache Hunger, wütende Miliztruppen, aber auch Reste der europäischen Kolonialisierung werden evident. Es gibt einige Großkonzerne, die Afrika schlichtweg ausbeuten und den Afrikanern die Ernährungsgrundlage entziehen. Unsere elektronischen Möglichkeiten erlauben, Europa als ein Paradies darzustellen, das man nur betreten muss.
In Nordafrika und im Vorderen Orient bis Afghanistan liegen sicherlich auch die Ursachen in einer missglückten imperialen Demokratisierungspolitik – dem „arabischen Frühling“, wo eigentlich nur Schutt und Asche übrig geblieben ist. Beklemmende Beispiele sind Syrien und der Irak.
Ich habe selbst mit eigenen Augen im Libanon Flüchtlingszentren für Syrer und Iraker gesehen und ich hoffe, dass diese auch unsere EU-Politiker gesehen haben. Die UNO hat sie gesehen und darüber berichtet.
Jedenfalls sind durch die unzähligen Kampfhandlungen die Menschen in Syrien sozusagen ausgebombt worden, sind nach Jordanien, Ägypten, in den Libanon und in die Türkei ausgewichen in der Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Die Hoffnung hat sich aber noch nicht erfüllt. Sie gehen unter schwersten Bedingungen über Griechenland und den Balkan, nach Deutschland und Schweden in der Hoffnung, dass sie es einmal gut haben werden. Man sieht an ihren Augen enorm viel Hoffnung. Aber was kommt auf sie zu? Die Aufnahme- und Asylmechanismen sind sehr schwierig, dauern sehr lange und sind damit demütigend, wie auch die Unterkünfte und schließlich die Arbeitslosigkeit und Sprachunkenntnis. Die Armen kommen von einer Hölle in die nächste.
In der gesamten Berichterstattung war es mir immer unverständlich, dass bis vor Kurzem nicht an der Ursachenbekämpfung deutlicher gearbeitet wurde. Der Westen, sprich USA, England, Frankreich, Deutschland und auch Russland und Israel, liefern eifrig Waffen in diese gesamten Unruheherde. Solange Waffen geliefert werden, ist an einen Frieden kaum zu denken. Bertha von Suttner, erste Friedensnobelpreisträgerin, hat das Buch „Die Waffen nieder!“geschrieben. Ja, das wäre schön, ist aber leider unrealistisch.
Aber auch eine andere Facette zeigt sich. Gerade unsere Bevölkerung hat hervorragend die Flüchtlinge empfangen und versorgt. Und das hat dann die Politiker ermuntert, gönnerhaft und herablassend sich bei den Menschen zu bedanken. Ja, auf welcher Grundlage? Seit geraumer Zeit ist das unselige Wort „Zivilgesellschaft“entstanden und im Gebrauch. Das heißt, wenn man eine Zivilgesellschaft hat, dann hat man ja auch eine andere Parallelgesellschaft. Das kann man nach der Sprache der Politik nur so formulieren, dass wir eine Politikgesellschaft und eine Zivilgesellschaft haben, Machthaber und Zahler.
Dass die Zivilgesellschaft von der Politikgesellschaft nicht sehr angetan ist, drückt sich an den sinkenden Wahlbeteiligungen und einem massiven Vertrauensverlust aus. Diese Politikgesellschaft macht die Gesetze, schreibt die Steuern vor und bevormundet den Bürger. In Gesprächen werden Exponenten der Zivilgesellschaft als Ahnungslose dargestellt, sozusagen „Wir wissen alles viel besser, wir sorgen für euch“. Ja, das kann man so sagen, aber wir, die Zivilgesellschaft, zahlen mit hohen Steuern und bekommen die Macht mit einer Flut von unsinnigen Verordnungen zu spüren.
Wie erwähnt, wird die Integration der Flüchtlinge noch sehr, sehr viele Probleme nach sich ziehen. Besonders, wenn von einem Kalifat Europa gesprochen wird. Nicht nur Arbeitsplätze zu schaffen, nicht nur die Flüchtlinge sprachlich und beruflich auszubilden, sondern sie auch in unsere europäische Wertegesellschaft einzugliedern, wird zur großen Herausforderung.
Jedenfalls ist es unabdingbar, der europäischen Rechtskultur Rechnung zu tragen, auch wenn sie in diesen Tagen bei der Immigration über Bord geworfen wurde. So sind Zivilgesellschaften und Politikgesellschaften wirklich zwei parallele Strukturen.
Der Riss in Europa ist auch der Grund, warum die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg versucht, an einem „Next Europe“zu arbeiten, um das letzte Zerreißen aufzuhalten. Das Europa, wie wir es geträumt haben, löst sich auf. Große Ideen entstehen im Narrativen, das neue Europa, das „Next Europe“zu entwerfen, wie wir Europa sehen wollen und für 2050 gestalten wollen. Europa steht nur mit seinen Bürgern, die zur Teilnahme an der Zukunft Europas motiviert werden müssen. Europa ist noch eine Wirtschaftsunion ohne Menschen, „Next Europe“ist eine Union aller Europäer in einer echten Solidargemeinschaft.
FELIX.UNGER@EURO-ACAD.EU