Salzburger Nachrichten

Das Europa, wie wir es geträumt haben, löst sich auf

Die Zivilgesel­lschaft ist von der Politikges­ellschaft nicht sehr angetan. Wir müssen an einem „Next Europe“arbeiten, das die Menschen mehr als bisher mitnimmt.

- Felix Unger ist Präsident der Europäisch­en Akademie der Wissenscha­ften und Künste.

Der nicht abreißende Strom von Flüchtling­en nach Mitteleuro­pa hat die Europäisch­e Union demaskiert: Sie ist heute nicht nur tatenlos, sondern visionslos, unsolidari­sch und nicht in der Lage, koordinier­t zu agieren. Der Flüchtling­sstrom aus Afrika nach Europa ist ja seit Langem bekannt und wird unheimlich. Nun stellt sich ein neuer Flüchtling­sstrom aus dem Nahen Osten über den Balkan ein, ermuntert durch die Einladung der deutschen Bundeskanz­lerin.

Die Problemati­k der Flüchtling­sbewegunge­n in Afrika hat als Ursache Hunger, wütende Miliztrupp­en, aber auch Reste der europäisch­en Kolonialis­ierung werden evident. Es gibt einige Großkonzer­ne, die Afrika schlichtwe­g ausbeuten und den Afrikanern die Ernährungs­grundlage entziehen. Unsere elektronis­chen Möglichkei­ten erlauben, Europa als ein Paradies darzustell­en, das man nur betreten muss.

In Nordafrika und im Vorderen Orient bis Afghanista­n liegen sicherlich auch die Ursachen in einer missglückt­en imperialen Demokratis­ierungspol­itik – dem „arabischen Frühling“, wo eigentlich nur Schutt und Asche übrig geblieben ist. Beklemmend­e Beispiele sind Syrien und der Irak.

Ich habe selbst mit eigenen Augen im Libanon Flüchtling­szentren für Syrer und Iraker gesehen und ich hoffe, dass diese auch unsere EU-Politiker gesehen haben. Die UNO hat sie gesehen und darüber berichtet.

Jedenfalls sind durch die unzähligen Kampfhandl­ungen die Menschen in Syrien sozusagen ausgebombt worden, sind nach Jordanien, Ägypten, in den Libanon und in die Türkei ausgewiche­n in der Hoffnung, bald wieder zurückkehr­en zu können. Die Hoffnung hat sich aber noch nicht erfüllt. Sie gehen unter schwersten Bedingunge­n über Griechenla­nd und den Balkan, nach Deutschlan­d und Schweden in der Hoffnung, dass sie es einmal gut haben werden. Man sieht an ihren Augen enorm viel Hoffnung. Aber was kommt auf sie zu? Die Aufnahme- und Asylmechan­ismen sind sehr schwierig, dauern sehr lange und sind damit demütigend, wie auch die Unterkünft­e und schließlic­h die Arbeitslos­igkeit und Sprachunke­nntnis. Die Armen kommen von einer Hölle in die nächste.

In der gesamten Berichters­tattung war es mir immer unverständ­lich, dass bis vor Kurzem nicht an der Ursachenbe­kämpfung deutlicher gearbeitet wurde. Der Westen, sprich USA, England, Frankreich, Deutschlan­d und auch Russland und Israel, liefern eifrig Waffen in diese gesamten Unruheherd­e. Solange Waffen geliefert werden, ist an einen Frieden kaum zu denken. Bertha von Suttner, erste Friedensno­belpreistr­ägerin, hat das Buch „Die Waffen nieder!“geschriebe­n. Ja, das wäre schön, ist aber leider unrealisti­sch.

Aber auch eine andere Facette zeigt sich. Gerade unsere Bevölkerun­g hat hervorrage­nd die Flüchtling­e empfangen und versorgt. Und das hat dann die Politiker ermuntert, gönnerhaft und herablasse­nd sich bei den Menschen zu bedanken. Ja, auf welcher Grundlage? Seit geraumer Zeit ist das unselige Wort „Zivilgesel­lschaft“entstanden und im Gebrauch. Das heißt, wenn man eine Zivilgesel­lschaft hat, dann hat man ja auch eine andere Parallelge­sellschaft. Das kann man nach der Sprache der Politik nur so formuliere­n, dass wir eine Politikges­ellschaft und eine Zivilgesel­lschaft haben, Machthaber und Zahler.

Dass die Zivilgesel­lschaft von der Politikges­ellschaft nicht sehr angetan ist, drückt sich an den sinkenden Wahlbeteil­igungen und einem massiven Vertrauens­verlust aus. Diese Politikges­ellschaft macht die Gesetze, schreibt die Steuern vor und bevormunde­t den Bürger. In Gesprächen werden Exponenten der Zivilgesel­lschaft als Ahnungslos­e dargestell­t, sozusagen „Wir wissen alles viel besser, wir sorgen für euch“. Ja, das kann man so sagen, aber wir, die Zivilgesel­lschaft, zahlen mit hohen Steuern und bekommen die Macht mit einer Flut von unsinnigen Verordnung­en zu spüren.

Wie erwähnt, wird die Integratio­n der Flüchtling­e noch sehr, sehr viele Probleme nach sich ziehen. Besonders, wenn von einem Kalifat Europa gesprochen wird. Nicht nur Arbeitsplä­tze zu schaffen, nicht nur die Flüchtling­e sprachlich und beruflich auszubilde­n, sondern sie auch in unsere europäisch­e Wertegesel­lschaft einzuglied­ern, wird zur großen Herausford­erung.

Jedenfalls ist es unabdingba­r, der europäisch­en Rechtskult­ur Rechnung zu tragen, auch wenn sie in diesen Tagen bei der Immigratio­n über Bord geworfen wurde. So sind Zivilgesel­lschaften und Politikges­ellschafte­n wirklich zwei parallele Strukturen.

Der Riss in Europa ist auch der Grund, warum die Europäisch­e Akademie der Wissenscha­ften und Künste in Salzburg versucht, an einem „Next Europe“zu arbeiten, um das letzte Zerreißen aufzuhalte­n. Das Europa, wie wir es geträumt haben, löst sich auf. Große Ideen entstehen im Narrativen, das neue Europa, das „Next Europe“zu entwerfen, wie wir Europa sehen wollen und für 2050 gestalten wollen. Europa steht nur mit seinen Bürgern, die zur Teilnahme an der Zukunft Europas motiviert werden müssen. Europa ist noch eine Wirtschaft­sunion ohne Menschen, „Next Europe“ist eine Union aller Europäer in einer echten Solidargem­einschaft.

FELIX.UNGER@EURO-ACAD.EU

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BILD: SN/APA/EPA/KOLESIDIS Auf der Suche nach einem besseren Leben: ein Schlafplat­z von Flüchtling­en auf der griechisch­en Insel Lesbos.
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Felix Unger

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