Salzburger Nachrichten

Ein Zelt im Klassenzim­mer

Wo Schule noch Abenteuer ist. Lagerleben auf nacktem Beton, Elefanten als Bildungsbr­emse und ein zweckentfr­emdeter Pick-up.

- NORBERT LUBLASSER pmumati19@gmail.com

Der junge Mann mit dem unaussprec­hlichen Namen trägt Shorts und den Dress des FC Barcelona. „Er studiert“, sagt der Guide, der uns in ein Himba-Dorf im Norden Namibias begleitet hat, stolz. Jetzt sind Ferien und der Jugendlich­e, einer der vielen Söhne des Häuptlings, hilft in der Familie aus. Er spricht fließend Englisch, besucht in der eine mittlere Tagesreise entfernten Provinzhau­ptstadt Opuwo Schule und Internat und unterschei­det sich schon rein äußerlich von seinen Verwandten, die nur Schurz und traditione­llen Haarschmuc­k tragen.

Der junge Mann hatte Glück, Bildung ist in diesem Teil des Landes nicht selbstvers­tändlich. „Nur 30 bis 40 Prozent der Himba-Kinder gehen zur Schule. Die Eltern sind skeptisch. Und brauchen den Nachwuchs zum Hüten des Viehs“, sagt Paulus Mumati, Leiter der „Epupa Primary School“mitten in Niemandsla­nd, nahe der Grenze zu Angola. Zwar gebe es eine Schulpflic­ht: „Aber wer soll die exekutiere­n?“

Die Skepsis ist zum Teil berechtigt. Wer einmal die Schulbildu­ng abgeschlos­sen hat, kehrt kaum noch in die Dörfer ohne Komfort und Abwechslun­g zurück. Die meisten zieht es in die wenigen Städte, allein in Windhoek kommen laut Schätzunge­n täglich 180 Neubürger an. Mit wenig Aussicht auf Arbeit und Unterkunft.

Mumati selbst ist kein Himba. Er gehört der Bevölkerun­gsmehrheit der Ovambos an und hat sich aus der benachbart­en Heimatprov­inz hierher, an die nach dem Grenzfluss Kuene benannte Region, versetzen lassen. Und er kämpft wie ein Löwe für seine Schule. Zwar bezahlt der Staat die mageren Lehrergehä­lter und stellt das karge Inventar bereit. Aber für die Versorgung von Lehrern und Schülern muss die Schule selbst sorgen. Und die ist durchaus aufwendig: Die knapp 100 Schülerinn­en und Schüler im Alter zwischen fünf und 16 Jahren sind nämlich die ganze Woche über in der Schule. Bis zu 20 Kilometer Fußmarsch müssen die Kinder und Jugendlich­en jeden Montag hin und jeden Freitag zurück bestreiten, wer weiter weg lebt, wird abgeholt. Was fehlt, ist eine Unterkunft, ein Hostel, wie sie hier sagen, ein Internat.

Und weil es kein Internat gibt, zahlt die Regierung auch nicht für Verpflegun­g und Unterkunft. Mumati und sein Team sind auf Lebensmitt­el, die die Eltern bereitstel­len, und auf Spenden von Besuchern angewiesen. 200 Namibia-Dollar, umgerechne­t 14 Euro, geben Touristen im Schnitt.

Hinter den vier Baracken, die als Schulhaus dienen und die sechs Klassen beherberge­n, ist eine Feuerstell­e. Hier wird gekocht, in der Regel Mealie-Pap, Maisbrei. Und weil Not erfinderis­ch macht, hat man auch für die Unterbring­ung eine Lösung gefunden: Die Mädchen schlafen in einer Wellblechh­ütte, die außerhalb des Schulgelän­des aufgestell­t wurde. Die Buben im Klassenzim­mer. Mit ihren Lehrern.

Mumati führt uns in eine Klasse. Eine Tafel, genormte und abgewohnte Stahlrohrm­öbel, bunte Bilder mit dem ABC, den Wochentage­n oder dem menschlich­en Körper an der Wand, nackter Betonboden. Mitten drin steht ein Zelt. „Das gehört dem Lehrer. Damit er auch ein bisschen Privatsphä­re hat“, erklärt der Direktor. Warum der Staat kein Internat finanziert, wollen wir wissen. Mumati hebt kurz die Schultern. „Das müssen wir selbst schaffen.“

Tatsächlic­h gibt es auch einen historisch­en und einen ideologisc­hen Hintergrun­d: Himba und San, wie die Buschmänne­r offiziell heißen, sind bei der mit absoluter Macht regierende­n SWAPO nicht gut angeschrie­ben. Im Freiheitsk­ampf, den die von Ovambo dominierte SWAPO verlustrei­ch geführt und gewonnen hat, waren Himba und San aufseiten des Gegners, der Besatzungs­macht Südafrika, im Einsatz – vorwiegend als Fährtensuc­her. Dazu kommt, dass die fortschrit­tsorientie­rten Ovambo die großteils noch an ihrer traditione­llen Lebensweis­e festhalten­den Stämme für rückständi­g und schlichtwe­g für Hinterwäld­ler halten.

Himba, von denen es nach Schätzunge­n gerade noch 7000 geben soll, sind eigentlich Nomaden, die von der Viehzucht leben. Rinder sind ihr Reichtum, einige davon werden sogar als heilig verehrt. Auf der Suche nach Weidefläch­en ziehen beziehungs­weise zogen die einzelnen Clans durch das Kaokoveld, ein ebenso malerische­s wie karges und unwirtlich­es Gebiet im Nordwesten Namibias. „Früher gab es die sogenannte­n Mobile Schools, das heißt, der Lehrer hat die Himba-Familien auf ihren Wanderunge­n begleitet. Das ist heute vorbei. Viele Himba sind sesshaft geworden, deshalb gibt es jetzt zentrale Schulen wir unsere.“

Namibia hat ein flächendec­kendes Bildungssy­stem mit mehr als 1700 Schulen und 20 Hochschule­n. Knapp 90 Prozent der schulpflic­htigen Kinder gehen zur Schule, die Alphabetis­ierungsrat­e beträgt 89 Prozent. Und wer als Kind keine Schule besuchen konnte, kann das in einer der landesweit tätigen Einrichtun­gen zur Erwachsene­nbildung nachholen. Der Schulbesuc­h ist seit 2013 kostenlos, vorher waren umgerechne­t 30 Euro pro Trimester zu bezahlen. Was die Himba, die Geld bestenfall­s aus dem Verkauf von selbst gefertigte­m Schmuck an Touristen lukrieren, an die Grenze des Belastbare­n brachte.

Namibia ist ein lebendiges Beispiel babylonisc­hen Sprachenge­wirrs: Die Amtssprach­e ist Englisch, die jedoch nur für eine winzige weiße, weil britischst­ämmige Minderheit Mutterspra­che ist. Am weitesten verbreitet ist Afrikaans, die Sprache der südafrikan­ischen Besatzer. Zehn (eigentlich elf, wenn man Deutsch dazuzählt) Sprachen der verschiede­nen ethnischen Gruppen sind als Unterricht­ssprachen anerkannt. Sie werden in den ersten Jahren an den jeweiligen Schulen verwendet. Daneben ist Englisch Pflicht. Und ab der fünften Schulstufe dann alleinige Unterricht­ssprache.

Was zum Teil auch die Lehrer fordert und überforder­t, wie Mumati erzählt: „Unsere Mutterspra­che ist auch nicht Englisch. Das haben wir erst lernen müssen. Und nicht alle beherrsche­n es so, dass sie es fehlerfrei als Unterricht­ssprache einsetzen können.“

Studieren in Namibia ist teuer: Bis zu 5000 Namibia-Dollar, umgerechne­t 330 Euro, koste der Uni-Besuch pro Semester, erzählt Liberty, der ein Tourismuss­tudium absolviert hat und jetzt als Guide arbeitet. Wer das Geld nicht selbst aufbringen kann, wendet sich an den Unterstütz­ungsfonds. Der schlug kürzlich Alarm, wie die „Allgemeine Zeitung“meldete: Allein aus den Jahren 2000 bis 2011 schuldeten Studenten dem Fonds mehr als 370 Millionen Namibia-Dollar (25 Millionen Euro) an nicht geleistete­n Rückzahlun­gen für Stipendien.

Wie übrigens ein Schülertra­nsport aussehen kann, wurde uns an einem anderen Ort vor Augen geführt: Schon rund eine Stunde waren wir einem geschlosse­nen Pick-up über eine holprige Schotterst­raße zwischen Opuwo und Warmquelle (ja, der Ort heißt so) gefolgt. In einem Respektabs­tand, um nicht total von der Staubfahne eingehüllt zu werden. In Ombombo, das aus vier Hütten und sechs Baracken besteht, hielt schließlic­h der Toyota. Die Heckklappe öffnete sich und heraus quoll eine Unzahl von Kindern. Es war Montag, und die Zwerge wurden zur Schule, als die sich die sechs Baracken entpuppten, gebracht.

Kein Transport steht den Buschmannk­indern vom Stamm der Ju/’hoan San im Nordosten Namibias, nahe der Grenze zu Botswana, zur Verfügung. Sie müssen die acht Kilometer von ihrem Dorf in Nhoma zur Schule zu Fuß gehen. Bisweilen kehren sie aber vorzeitig wieder um. Dann, wenn ihnen Elefanten den Weg versperren . . .

Zum Abschied bittet uns Paulus Mumati, der kämpferisc­he Prinzipal, allen in der Heimat zu sagen, wie dringend er das Geld für sein Internat benötige. Wer mehr darüber wissen will, kann sich direkt an ihn wenden:

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