Ein Zelt im Klassenzimmer
Wo Schule noch Abenteuer ist. Lagerleben auf nacktem Beton, Elefanten als Bildungsbremse und ein zweckentfremdeter Pick-up.
Der junge Mann mit dem unaussprechlichen Namen trägt Shorts und den Dress des FC Barcelona. „Er studiert“, sagt der Guide, der uns in ein Himba-Dorf im Norden Namibias begleitet hat, stolz. Jetzt sind Ferien und der Jugendliche, einer der vielen Söhne des Häuptlings, hilft in der Familie aus. Er spricht fließend Englisch, besucht in der eine mittlere Tagesreise entfernten Provinzhauptstadt Opuwo Schule und Internat und unterscheidet sich schon rein äußerlich von seinen Verwandten, die nur Schurz und traditionellen Haarschmuck tragen.
Der junge Mann hatte Glück, Bildung ist in diesem Teil des Landes nicht selbstverständlich. „Nur 30 bis 40 Prozent der Himba-Kinder gehen zur Schule. Die Eltern sind skeptisch. Und brauchen den Nachwuchs zum Hüten des Viehs“, sagt Paulus Mumati, Leiter der „Epupa Primary School“mitten in Niemandsland, nahe der Grenze zu Angola. Zwar gebe es eine Schulpflicht: „Aber wer soll die exekutieren?“
Die Skepsis ist zum Teil berechtigt. Wer einmal die Schulbildung abgeschlossen hat, kehrt kaum noch in die Dörfer ohne Komfort und Abwechslung zurück. Die meisten zieht es in die wenigen Städte, allein in Windhoek kommen laut Schätzungen täglich 180 Neubürger an. Mit wenig Aussicht auf Arbeit und Unterkunft.
Mumati selbst ist kein Himba. Er gehört der Bevölkerungsmehrheit der Ovambos an und hat sich aus der benachbarten Heimatprovinz hierher, an die nach dem Grenzfluss Kuene benannte Region, versetzen lassen. Und er kämpft wie ein Löwe für seine Schule. Zwar bezahlt der Staat die mageren Lehrergehälter und stellt das karge Inventar bereit. Aber für die Versorgung von Lehrern und Schülern muss die Schule selbst sorgen. Und die ist durchaus aufwendig: Die knapp 100 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen fünf und 16 Jahren sind nämlich die ganze Woche über in der Schule. Bis zu 20 Kilometer Fußmarsch müssen die Kinder und Jugendlichen jeden Montag hin und jeden Freitag zurück bestreiten, wer weiter weg lebt, wird abgeholt. Was fehlt, ist eine Unterkunft, ein Hostel, wie sie hier sagen, ein Internat.
Und weil es kein Internat gibt, zahlt die Regierung auch nicht für Verpflegung und Unterkunft. Mumati und sein Team sind auf Lebensmittel, die die Eltern bereitstellen, und auf Spenden von Besuchern angewiesen. 200 Namibia-Dollar, umgerechnet 14 Euro, geben Touristen im Schnitt.
Hinter den vier Baracken, die als Schulhaus dienen und die sechs Klassen beherbergen, ist eine Feuerstelle. Hier wird gekocht, in der Regel Mealie-Pap, Maisbrei. Und weil Not erfinderisch macht, hat man auch für die Unterbringung eine Lösung gefunden: Die Mädchen schlafen in einer Wellblechhütte, die außerhalb des Schulgeländes aufgestellt wurde. Die Buben im Klassenzimmer. Mit ihren Lehrern.
Mumati führt uns in eine Klasse. Eine Tafel, genormte und abgewohnte Stahlrohrmöbel, bunte Bilder mit dem ABC, den Wochentagen oder dem menschlichen Körper an der Wand, nackter Betonboden. Mitten drin steht ein Zelt. „Das gehört dem Lehrer. Damit er auch ein bisschen Privatsphäre hat“, erklärt der Direktor. Warum der Staat kein Internat finanziert, wollen wir wissen. Mumati hebt kurz die Schultern. „Das müssen wir selbst schaffen.“
Tatsächlich gibt es auch einen historischen und einen ideologischen Hintergrund: Himba und San, wie die Buschmänner offiziell heißen, sind bei der mit absoluter Macht regierenden SWAPO nicht gut angeschrieben. Im Freiheitskampf, den die von Ovambo dominierte SWAPO verlustreich geführt und gewonnen hat, waren Himba und San aufseiten des Gegners, der Besatzungsmacht Südafrika, im Einsatz – vorwiegend als Fährtensucher. Dazu kommt, dass die fortschrittsorientierten Ovambo die großteils noch an ihrer traditionellen Lebensweise festhaltenden Stämme für rückständig und schlichtweg für Hinterwäldler halten.
Himba, von denen es nach Schätzungen gerade noch 7000 geben soll, sind eigentlich Nomaden, die von der Viehzucht leben. Rinder sind ihr Reichtum, einige davon werden sogar als heilig verehrt. Auf der Suche nach Weideflächen ziehen beziehungsweise zogen die einzelnen Clans durch das Kaokoveld, ein ebenso malerisches wie karges und unwirtliches Gebiet im Nordwesten Namibias. „Früher gab es die sogenannten Mobile Schools, das heißt, der Lehrer hat die Himba-Familien auf ihren Wanderungen begleitet. Das ist heute vorbei. Viele Himba sind sesshaft geworden, deshalb gibt es jetzt zentrale Schulen wir unsere.“
Namibia hat ein flächendeckendes Bildungssystem mit mehr als 1700 Schulen und 20 Hochschulen. Knapp 90 Prozent der schulpflichtigen Kinder gehen zur Schule, die Alphabetisierungsrate beträgt 89 Prozent. Und wer als Kind keine Schule besuchen konnte, kann das in einer der landesweit tätigen Einrichtungen zur Erwachsenenbildung nachholen. Der Schulbesuch ist seit 2013 kostenlos, vorher waren umgerechnet 30 Euro pro Trimester zu bezahlen. Was die Himba, die Geld bestenfalls aus dem Verkauf von selbst gefertigtem Schmuck an Touristen lukrieren, an die Grenze des Belastbaren brachte.
Namibia ist ein lebendiges Beispiel babylonischen Sprachengewirrs: Die Amtssprache ist Englisch, die jedoch nur für eine winzige weiße, weil britischstämmige Minderheit Muttersprache ist. Am weitesten verbreitet ist Afrikaans, die Sprache der südafrikanischen Besatzer. Zehn (eigentlich elf, wenn man Deutsch dazuzählt) Sprachen der verschiedenen ethnischen Gruppen sind als Unterrichtssprachen anerkannt. Sie werden in den ersten Jahren an den jeweiligen Schulen verwendet. Daneben ist Englisch Pflicht. Und ab der fünften Schulstufe dann alleinige Unterrichtssprache.
Was zum Teil auch die Lehrer fordert und überfordert, wie Mumati erzählt: „Unsere Muttersprache ist auch nicht Englisch. Das haben wir erst lernen müssen. Und nicht alle beherrschen es so, dass sie es fehlerfrei als Unterrichtssprache einsetzen können.“
Studieren in Namibia ist teuer: Bis zu 5000 Namibia-Dollar, umgerechnet 330 Euro, koste der Uni-Besuch pro Semester, erzählt Liberty, der ein Tourismusstudium absolviert hat und jetzt als Guide arbeitet. Wer das Geld nicht selbst aufbringen kann, wendet sich an den Unterstützungsfonds. Der schlug kürzlich Alarm, wie die „Allgemeine Zeitung“meldete: Allein aus den Jahren 2000 bis 2011 schuldeten Studenten dem Fonds mehr als 370 Millionen Namibia-Dollar (25 Millionen Euro) an nicht geleisteten Rückzahlungen für Stipendien.
Wie übrigens ein Schülertransport aussehen kann, wurde uns an einem anderen Ort vor Augen geführt: Schon rund eine Stunde waren wir einem geschlossenen Pick-up über eine holprige Schotterstraße zwischen Opuwo und Warmquelle (ja, der Ort heißt so) gefolgt. In einem Respektabstand, um nicht total von der Staubfahne eingehüllt zu werden. In Ombombo, das aus vier Hütten und sechs Baracken besteht, hielt schließlich der Toyota. Die Heckklappe öffnete sich und heraus quoll eine Unzahl von Kindern. Es war Montag, und die Zwerge wurden zur Schule, als die sich die sechs Baracken entpuppten, gebracht.
Kein Transport steht den Buschmannkindern vom Stamm der Ju/’hoan San im Nordosten Namibias, nahe der Grenze zu Botswana, zur Verfügung. Sie müssen die acht Kilometer von ihrem Dorf in Nhoma zur Schule zu Fuß gehen. Bisweilen kehren sie aber vorzeitig wieder um. Dann, wenn ihnen Elefanten den Weg versperren . . .
Zum Abschied bittet uns Paulus Mumati, der kämpferische Prinzipal, allen in der Heimat zu sagen, wie dringend er das Geld für sein Internat benötige. Wer mehr darüber wissen will, kann sich direkt an ihn wenden: