Paris sucht seinen Alltag
Nach den Terroranschlägen stellt der heutige Montag einen Probelauf für den Alltag in der französischen Hauptstadt dar. Die Wunden sind tief.
Sie werden kommen, davon ist Habib überzeugt. Seit Jahren verkauft der gebürtige Libanese am Bahnhof Gare du Nord Zeitungen. An einem Montag, wenn Geschäftsleute mit dem Eurostar aus London oder Brüssel nach Paris strömen, haben ihn seine Kunden noch nie im Stich gelassen. „Warum soll sich das ändern? Nur weil ,les autres‘ da waren?“, fragt Habib. Mit „les autres“, den anderen, sind die Terroristen gemeint, die Paris am Wochenende in einen Ausnahmezustand versetzt haben. Mindestens 129 Menschen wurden getötet. Bis zu 352 verletzt. Während die Welt eine Spur zu den Attentätern in Brüssel gefunden haben will, wo es zu vorerst fünf Festnahmen kam, sucht Habib nach Zeitungen. Anja Kröll berichtet für die SN aus Paris
Die Pariser wollen am heutigen Montag vor allem eines finden: die Rückkehr zur Normalität. „Das Leben geht weiter, die Narbe bleibt“, sagt Monique, die zum Place de la République gekommen ist. Dem offiziellen Trauerort vieler Pariser und dem Tummelplatz der internationalen Presse.
Überall erinnern Blumen, Teddybären, Fotos und Kerzen an die Attacken. Immer wieder fangen Menschen zu weinen an, sie umarmen sich, werden von anderen umarmt, bis eine kleine Gruppe von Trauernden entsteht.
Die Polizisten, die mit Maschinengewehren, Vollvisierhelmen und kugelsicheren Westen dezent am Rande stehen, treten dann nach vorn, sagen Sätze wie: „Leute, ihr wisst, dass das nicht geht“und ernten verständnisvolles Nicken – Menschenansammlungen sind in der französischen Hauptstadt nach wie vor strikt untersagt. Zu groß ist die Angst, dass sich die Ereignisse von Freitagnacht wiederholen könnten. Vor allem nachdem am Sonntag Informationen durchgesickert waren, dass sich eines der drei Terrorkommandos nach wie vor in Paris befinden könnte.
Das ist die eine Seite von Paris, doch es gibt auch die andere: Jene Menschen, die bei frühlingshaften Temperaturen ihre anfängliche Schockstarre abgelegt haben. In Cafés sitzen, lachen und trinken. Wären da nicht immer wieder Polizeifahrzeuge und Sirenen, die die Anwesenden hochschrecken lassen.
Wie bei einem Automatismus fallen dann Worte wie „Charlie Hebdo“, Stade de France oder Bataclan. Synonyme für den Terror von Paris. Auch Jean-Luc, der Rezeptionist eines Hotels am Gare du Nord, blickt jedes Mal auf, wenn ein Polizeiauto vorbeifährt. Viele Stornierungen habe es gegeben, erzählt er. Ruhe brauche die Stadt. Normalität habe sie noch keine, wie gerade auch ihr Symbol verdeutlicht: Am Sonntag blieb der Eiffelturm weiterhin auf unbestimmte Zeit geschlossen.
Ruhe brauchen auch die Pariser. Am Wochenende haben viele die Bilder des Grauens in einer Art Endlosschleife im Internet oder auf ihren Fernsehern mitverfolgt. So auch Monique vom Place de la République. Sie blieb zu Hause, in den eigenen vier Wänden, wie von der Polizei empfohlen.
Heute wird dieser Ausnahmezustand dem Alltag weichen. Für viele Pariser geht es zurück in die Metro, die Büros, auf die Straßen – normale Orte. So normal wie jene, die Freitagnacht zu Terrorzielen wurden. „Was sollen wir tun? Uns verstecken? Nein“, sagt Pierre, der Blumen niedergelegt hat, um den anderen Franzosen Mut zu machen.
Ob sich die Einstellung gegenüber Flüchtlingen verändern wird, nachdem einer der Selbstmordattentäter laut einem bei ihm gefundenen Pass ein registrierter Flüchtling war? „Die Menschen unterscheiden leider nicht. Sie unterscheiden nicht zwischen jenen, die vor den Barbaren geflüchtet sind, die auch Paris das angetan haben. Und jenen, die nur mit dem Ziel, Terror und Angst zu verbreiten, zu uns gekommen sind. Das ist gefährlich.“
Habib, der Zeitungsverkäufer vom Gare du Nord, ist selbst vor Jahren geflohen. Reden mag er darüber nicht. Und auch nicht über jene Männer, die Sonntagmittag dem Gare du Nord einen überraschenden Besuch abgestattet haben. Frankreichs Premierminister Manuel Valls und der Innenminister Bernard Cazeneuve waren angereist, um den anwesenden Polizisten für ihren Einsatz zu danken. Männern mit Maschinengewehren und Vollvisierhelmen wie am Place de la République. Oder am Eingang zum Eurotunnel. Von dort, wo Habibs Kunden heute kommen werden. Empfangen am Gare du Nord von der französischen Flagge – auf halbmast.