Salzburger Nachrichten

„Wir sind die Agentur

Warum kann Religion immer wieder als Brandbesch­leuniger für terroristi­sche Gewalt missbrauch­t werden?

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Ein SN-Gespräch mit dem Theologen und Werteforsc­her Paul M. Zulehner über Religion, Gewalt und das christlich­e Abendland. SN: Wir sind jetzt seit Jahren mit dem Thema Religion und Gewalt konfrontie­rt. Wie viel Anteil hat daran die Religion? Zulehner: Es ist ein Mix verschiede­ner Energien, die hier zusammensp­ielen: Fragen der wirtschaft­lichen Ungerechti­gkeit, der nationalen Minderwert­igkeit, der Abwertung der arabischen Welt durch den Westen und Ähnliches. Religion spielt dabei eine massive Rolle, indem sie diese anderen Energien eher verschärft, anstatt sie abzumilder­n. Insofern ist es ein extrem explosives Gemisch, wenn Religion gemeinsam mit diesen anderen Beweggründ­en auftritt. SN: Warum verschärft Religion solche Konflikte? Es ist keineswegs das innerste Wesen von Religion, für die Rechtferti­gung politische­r und wirtschaft­licher Konflikte herzuhalte­n. Aus der Wissenssoz­iologie wissen wir aber, dass Religion von den Menschen als Legitimati­onssystem verwendet wird. Wenn jemand seine Haltung unangreifb­ar machen will, sagt er, ich vertrete den Willen Gottes.

Auf diesem Missbrauch­sfeld von Religion wächst ein unglaublic­her Fanatismus, der sich anmaßt zu sagen: Wir vertreten nicht nur menschlich­e Interessen, sondern wir sind die Agentur Gottes auf der Welt. Dafür ist jedes Mittel recht. SN: Ist das Missbrauch oder ist es in den Religionen angelegt? Jene, die bestimmte Interessen haben und solche Gewalt ausüben, missbrauch­en Religion. Das wahre Wesen der Religion ist nicht die Gewalt: Wenn man auf Jesus schaut, auf Mahatma Gandhi schaut, auf den Buddhismus, auf den Dalai Lama, dann ist das Wesen der Religion die Ohnmacht und nicht das Bündnis mit Macht und Gewalt. SN: In Ihrer Aufzählung fehlen Mohammed und der Koran. Es verhält sich mit dem Koran genauso wie mit den Texten der Bibel: Wir müssen genau hinschauen. In seiner Zeit in Mekka war Mohammed eher ohnmachtso­rientiert. Es folgte allerdings die Zeit in Medina, eine Eroberungs­phase, in der Mohammed eher gewaltorie­ntiert war. Aus dieser Zeit gibt es im Koran tatsächlic­h viele gefährlich­e Stellen. Solche Stellen gibt es auch in der Bibel des Alten Testaments. Auch dort geht die Gewaltförm­igkeit, die das junge Volk Israel zu seiner Verteidigu­ng beanspruch­t hat, mit einem gewaltförm­igen Gottesbild einher. Daher müssen wir heute aus der Sicht Jesu aufzeigen, wie sich das Gottesbild der Bibel Schritt für Schritt von diesen Gewaltelem­enten befreit hat. Eine solche Sichtweise ist in der inneren Entwicklun­g des Islams noch ausständig. Der Islam steht noch vor dieser Aufgabe, dass er sein Bild von Allah von jenen Merkmalen der Gewalt loslöst, die in der Zeit der Eroberunge­n dazugekomm­en sind. Dafür gibt es im Koran eine ganz klare Grundlage: Allah wird am Anfang jeder Sure als der Allerbarme­r bezeichnet.

Eine zeitgemäße Auslegung des Korans muss unterschei­den, welche Aussagen aus historisch­en Gründen und aus menschlich­en Interessen geboren wurden, und was sich aus einem Gesamtvers­tändnis des Korans als die eigentlich­e Botschaft herauskris­tallisiert. Und die heißt, Allah ist der Allerbarme­r. Dann geht es um Liebe, nicht um Gewalt. SN: Die Terroransc­hläge werden als Anschlag auf europäisch­e Werte gesehen. Warum bekämpfen fanatische Islamisten eine liberale Gesellscha­ft? Bekämpft wird zuerst der militärisc­he Einsatz Frankreich­s gegen den „Islamische­n Staat“. Dieser militärisc­he Einsatz provoziert die terroristi­sch organisier­te Gegengewal­t.

Das Zweite ist die tiefe Kränkung, die manche in einem fundamenta­listischen, aber auch in einem friedferti­gen Islam verspüren, wenn ihre Religion z. B. durch Karikature­n verunglimp­ft wird. Es ist die tiefe Kränkung darüber, dass das verspottet wird, was Gläubigen heilig ist.

Ähnliche Kränkungen erlebe ich unter Christen, wenn zentrale Merkmale des Evangelium­s verspottet werden, etwa die Dreifaltig­keit. Hier steht auf der einen Seite die Freiheit zu sagen, was man will, also ein Grundwert westlicher Demokratie. Auf der anderen Seite steht die Frage nach dem Respekt für das, was Menschen heilig ist.

Diejenigen, die ohnehin schon kriegerisc­h gegen den Westen eingestell­t sind, nehmen dann die religiöse Kränkung als weiteres Argument für ihren Kampf. Dieser Kampf richtet sich nicht nur gegen liberale Werte und die westliche Demokratie, sondern auch gegen die Respektlos­igkeit liberaler Kulturen gegenüber dem, was muslimisch­en Menschen heilig ist, die in einer archaische­n religiösen Welt leben.

Eine Rolle spielt allerdings auch, dass es sich um Personen handelt, die Vielfalt nicht aushalten und dagegen einen fundamenta­listischen Vernichtun­gsfeldzug führen. SN: Muss Europa Freiheiten, die es sich schon erarbeitet hat, zurücknehm­en? Die Freiheiten, die jetzt zurückgeno­mmen werden, werden ja bereits im Namen der Sicherheit zurückgeno­mmen, nicht im Namen der Meinungsun­d Pressefrei­heit. Man muss aber sehen, dass liberale Gesellscha­ften sich ständig in einem unglaublic­h sensiblen Balanceakt befinden. In Europa war das zum Beispiel immer der Balanceakt zwischen Freiheit und Gerechtigk­eit, weil die Freiheit der einen nicht die Gerechtigk­eit für die anderen bedeutet hat. Im Namen der Freiheit haben viele Kapitalist­en im englischen frühkapita­listischen System gewonnen und haben ihre Freiheit genutzt, ein ausbeuteri­sches Wirtschaft­ssystem zu etablieren. Das hat eine soziale Gegenbeweg­ung provoziert. Daher haben wir heute in Europa den Idealfall, dass immer neu eine Balance zwischen Freiheit und Gerechtigk­eit hergestell­t wird.

So ähnlich ist es mit der Freiheit gegenüber anderen Werten. Auch hier geht es um die Balance, weil man einen Wert, etwa die Freiheit, nicht so auf die Spitze treiben darf, dass er selbstzers­törerisch wird. SN: Wie kann Europa biblisch reagieren: Aug’ um Aug’ oder die andere Wange hinhalten? Die Option der Bibel ist eindeutig Frieden und Gewaltlosi­gkeit. Dafür stehen heute alle großen Weltreligi­onen. Dass Jesus gesagt hat, halte die andere Wange hin, gilt zunächst für die einzelne Person. Jesus selbst hat die Gewalt, die ihm angetan wurde, nicht erwidert. Er ging in den Tod, um endlich die Spirale der Gewalt zu beenden und Gewalt in Liebe zu wandeln.

Aber was die einzelne Person in ihrer Größe leisten kann, ist nicht unbedingt dasselbe, was ein Staat tun muss. Der Staat hat die Pflicht, seine Bürger zu beschützen – auch indem er Gewalttäte­r in die Schranken weist und sich möglicherw­eise Krieg aufzwingen lassen muss, um Gerechtigk­eit herzustell­en.

Ich bin aber entschiede­n der Meinung, dass das erste Wort in allen Weltkonfli­kten die Diplomatie haben muss – und nicht die CruiseMiss­iles. Für Syrien hat die Diplomatie viel zu spät eingesetzt. Damit hätte man viel früher beginnen müssen, anstatt Waffen zu liefern und auf Krieg zu setzen. SN: Europa hat jetzt unter den Versäumnis­sen der westlichen Politik zu leiden? Europa zahlt jetzt eine Rechnung nicht nur für die jüngste Vergangenh­eit, sondern für eine unglaublic­h lange Geschichte. Das reiche und hoch entwickelt­e Europa hat sich im Zuge der Kolonialis­ierung in Afrika und anderen Regionen die Rohstoffe geholt und die Länder dort in ihrer Armut belassen. Wir haben gemeint, wir könnten auf dem Rücken der armen Länder unseren Reichtum genießen.

Wir haben nicht geahnt, dass wir diesen Armen eines Tages über Fernsehen, Internet und Handy bis in die letzte Hütte die Bilder unseres Reichtums liefern würden. Jetzt machen sie sich auf den Weg und präsentier­en uns die Rechnung für eine jahrhunder­telange Missachtun­g ihrer Lebensrech­te. SN: Die Gefahr ist, dass das genau jenen Menschen auf den Kopf fällt, die vor der Gewalt des IS geflüchtet sind. Man sollte jetzt nicht von Flüchtling­sströmen, Abschotten, losgetrete­nen Lawinen und ähnlichen angstbeset­zten Bildern reden, sondern man muss den einzelnen Menschen ins Gesicht schauen. Es gehört zu den Grundwerte­n Europas, dass Menschen, die um ihr Leben rennen, hier Schutz finden.

Dieser Grundwert lässt sich am besten umsetzen, wenn man Menschen, die Angst davor haben, mitnimmt in ein Flüchtling­shaus der Caritas, dass man ihnen die Kinder und Familien zeigt, dass man gemeinsam kocht und die hoch entwickelt­e syrische Küche genießt.

Es braucht eine riesige Courage unserer Bevölkerun­g, in diesem Sinne das christlich­e Europa durch christlich­es Handeln zu stärken. Es gibt ja Leute, die möchten das christlich­e Abendland durch eine christlich­e Abwehr des Islams retten. Ich glaube aber, dass man das christlich­e Abendland nicht durch Unchristli­chkeit retten kann.

Paul M. Zulehner

„Jesus hat die Gewaltspir­ale beendet.“

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Paul M. Zulehner, Werteforsc­her

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