Terrorabwehr mit Kollateralschaden
Die Terroristen von Paris wollten den europäischen Lebensstil wegbomben. Es liegt an uns, sie scheitern zu lassen.
Der Terror von Paris löst, und das ist wohl seine Absicht, ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Ohnmacht aus. Wie reagieren auf einen unsichtbaren Gegner, der nicht als solcher erkennbar ist? Der Krieg, von dem der französische Staatspräsident François Hollande spricht, ist kaum zu gewinnen. Anders als bei konventionellen Kriegen hält sich der Feind nicht außerhalb der Staatsgrenzen auf. Er ist mitten unter uns. Laut Peter Gridling, Chef des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, sind in Österreich rund 250 Personen amtsbekannt, die sich zum bewaffneten Dschihad bekennen. Leider könnten sie nicht lückenlos überwacht werden, weshalb, so Gridling, „ein Restrisiko“bleibe. Eine beunruhigende Vorstellung, zumal man davon ausgehen muss, dass Tausende weitere Terrorsympathisanten unter der Wahrnehmungsschwelle der Staatsschützer ihr Unwesen treiben. Wir tanzen auf dünnem Eis.
Und wir müssen uns fragen, wie eine Regierung, die zwei Wochen lang darüber streitet, ob ein Zaun ein Zaun ist, auf eine Situation reagieren würde, wie sie sich jetzt in Frankreich stellt. Eine solche Situation kann jederzeit eintreten. Einem fanatischen Massenmörder macht es keinen Unterschied, ob er seinen Massenmord in Paris begeht, in Salzburg oder in Wien. Würden sich unsere Regierenden in einem solchen Fall als kompetente Krisenmanager erweisen? Oder würden sie auch jetzt noch einen Sinnlosstreit vom, Pardon, Zaun brechen und einander die Worte im Mund verdrehen? Auch das ist eine beunruhigende Vorstellung. Schönwetter-Politiker nannten die SN unsere Regierenden im Samstag-Leitartikel. Leider ist das Wetter alles andere als schön.
Unsere Demokratie, mehr noch: Unsere Art zu leben wird von zwei Seiten bedroht. Einerseits wird sie bedroht von den verrückten Fanatikern, die mit Sprengstoffgürteln, mit Terror und Massenmord ihre mittelalterliche Vorstellung der Welt durchsetzen wollen. Und andererseits wird die Demokratie bedroht von jenen, die danach rufen, dem islamischen Terror durch staatlichen Terror zu begegnen. Die es für angezeigt halten, Menschen auf bloßen Verdacht einzusperren. Oder zumindest aus dem Land zu werfen. Die nichts dabei finden, Menschen nur aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit zu stigmatisieren. Die also die Demokratie dadurch retten wollen, dass sie sie abschaffen. Beide Spielarten der Demokratiegefährdung sind geeignet, Europa in den Abgrund zu stürzen.
Eine dritte Spielart der Demokratiegefährdung kommt hinzu. Sie besteht in den Überwachungsmaßnahmen, nach denen jetzt alles wieder ruft. Es wird wohl nicht zu vermeiden sein, dass die Staaten im Gefolge des Terrors ihre Bemühungen verstärken werden, die Bespitzelung der Bürger zu perfektionieren. Die liberalen Kräfte in der Gesellschaft, die hier dagegenhalten, haben momentan schlechte Konjunktur. Denn natürlich ist es eine verlockende Vorstellung, Terroranschläge durch noch bessere und noch gezieltere Überwachung des elektronischen Datenverkehrs verhindern zu können. Nur muss uns bewusst sein: Die Instrumente, die wir den Regierungen im Eifer der Terrorbekämpfung willfährig an die Hand geben, können eines Tages auch gegen uns verwendet werden. Derzeit ist die diesbezügliche Gefahr nicht allzu groß. Denn die europäischen Länder werden in der Regel von wohlwollenden und demokratischen Regierungen beherrscht. Doch das muss nicht immer so sein. Sollten eines Tages weniger wohlwollende Herrscher ans Ruder kommen, die auf die Regeln der Demokratie pfeifen, können sie sich zwecks Unterdrückung und Drangsalierung ihrer Bürger bequem der Instrumente des Überwachungsstaats bedienen.
Zum europäischen Lebensstil gehört, angstfrei öffentliche Orte wie Cafés, Konzerthallen und Fußballstadien besuchen zu können. Zum europäischen Lebensstil gehört, seine Religion und seine Meinung frei ausleben zu können. Zum europäischen Lebensstil gehört, sein Privatleben vor staatlichem Zugriff schützen zu können. Dieser Lebensstil ist akut gefährdet.