Eine Attacke gegen den eigenen Torhüter
Ein im heimischen Fußball einzigartiger Vorfall jährt sich in diesen Tagen zum 60. Mal, er ereignete sich in der elften Runde der Staatsliga beim Gastspiel der Salzburger Austria in Kapfenberg. Die Lehener lagen zu diesem Zeitpunkt als Sechste zwar drei Plätze vor den Steirern, diese galten aber als extrem heimstark und als Favoriten. Umso mehr, als Austria-Trainer Josef Graf auf ein halbes Dutzend Stammspieler verzichten musste, darunter „Bomber“Willi König und Spielmacher Alfred Grün.
Und so kam es, wie es fast kommen musste. Eine Halbzeit wehrten sich die Gäste nach Kräften (0:1), dann aber kam es zum Zusammenbruch. Als der trotz Ischiasschmerzen angetretene Torhüter Rudi Krammer in der 83. Minute einen Eckball verfehlte und es 3:0 hieß, musste er sich von seinem rechten Verteidiger Richard Jelinek eine Ansammlung von Schimpfworten anhören, wenig später auch beim 4:0. In der 87. Minute reklamierten Lindner und Steffek Abseits, Krammer blieb wie angewurzelt stehen und kassierte ohne jede Abwehrbewegung den fünften Treffer.
Da brannten bei Jelinek alle Sicherungen durch: Er riss dem verdutzten Krammer den Torhüter-Pullover vom Leib, stieß den völlig entnervten Keeper aus dem Tor und stellte sich selbst – mit dem Trikot von Krammer – zwischen die Pfosten. Unter tosendem Applaus der Zuschauer schlich der hemmungslos weinende Krammer vom Feld, nach dem Schlusspfiff musste sich Jelinek ein gellendes Pfeifkonzert anhören. So richtig rund ging es dann in der Austria-Kabine. Großer Lärm, beschädigte Tür- und Fensterstöcke und eine zerbrochene Fensterscheibe waren Zeugen einer letztlich handfesten Auseinandersetzung zwischen dem verstoßenen Torhüter und dem Verteidiger.
Zu Hause in Salzburg meldete sich Jelinek „krank“und fehlte im nächsten Match bei Sturm Graz (4:4); eine Sanktion durch den Club gab es nicht. In der letzten Herbstrunde war Jelinek wieder dabei und einer der „Väter“des sensationellen 6:4-Sieges in Lehen über Meister Vienna mit den unvergesslichen vier Toren von Mittelstürmer Bruno Fleck. Die Selbstjustiz Jelineks im Jahr 1955 könnte es aufgrund des Regelwerks heute gar nicht mehr geben – er würde wegen grober Unsportlichkeit die Rote Karte sehen.