Leben mit dem Terror
Attentäter, die aus dem Nichts in den Alltag platzen, Bomben in Restaurants und Diskotheken: Für Israelis ist das Normalität. Ein Blick darauf, wie man hier mit der Gefahr umgeht – und wie es eines Tages auch in Europa ausschauen könnte.
„Verzeihung, Verzeihung“, sagt der junge Uniformierte, als er sich seinen Weg zum Rücksitz dieses Autobusses in Tel Aviv bahnt und dabei im dichten Gedränge den langen Lauf seines langen Sturmgewehrs den Passagieren immer wieder unabsichtlich in den Rücken rammt. Die nehmen das lässig hin. Sie wissen, dass die meisten Israelis die M-16-Maschinenpistole „den Stock der 1000 Entschuldigungen“nennen. Der Anblick schwer bewaffneter Soldaten, die sich auf Fronturlaub durch Menschenmassen drängeln und dabei unweigerlich anecken, gehört hier genauso zum Alltag wie eine ganze Reihe von Sicherheitsvorkehrungen, die die Bürger vor Terrorattentaten schützen sollen.
Dabei sind Touristen, die das Land zum ersten Mal besuchen, meist überrascht, wie sehr die Atmosphäre sich vom Image der Krisenregion unterscheidet. Das Heilige Land besticht eher durch Lebensfreude und mediterrane Gelassenheit. Doch unter der lockeren Oberfläche herrschen latente Vorsicht und Wachsamkeit. Man weiß: Ein Anschlag könnte sich jederzeit überall ereignen. Evolution der Gewalt Terror gehörte schon lange vor der Staatsgründung 1948 zu Israels Geschichte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versuchten arabische Bewohner Palästinas, die Einwanderung von Juden notfalls mit Gewalt zu stoppen. Die richtete sich anfangs gegen landwirtschaftliche Einrichtungen: Felder wurden verbrannt, Plantagen beschädigt. Ab 1921 kam es in Palästina zu ersten Pogromen gegen jüdische Gemeinden in Städten wie Hebron, Jerusalem und Jaffa. Daraufhin gründeten die Zionisten erste Selbstverteidigungsorganisationen – Vorläufer der israelischen Armee. Ab den 1930er-Jahren mussten bei der Gründung neuer Kibbuzim innerhalb weniger Stunden eine Abwehrmauer und ein Wachturm stehen, um Angriffe feindlicher Araber abzuwehren. Nach der Staatsgründung riss die Terrorwelle nicht ab, im Gegenteil. Nach der Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) 1964 wurden die Attacken stärker organisiert, richteten sich gegen Infrastruktur und Armeepatrouillen, aber auch Autobusse, Badende am Strand und sogar Schulen. Die radikalislamische Hamas setzte nach ihrer Entstehung 1987 mit seriellen Selbstmordattentaten neue Maßstäbe des Schreckens. Der ganz normale Terror So wachsen Israels Jugendliche im Bewusstsein auf, dass Terror zum Alltag gehört wie Sonnenaufgang oder Frühstück. Das schlägt sich in der Erziehung nieder: Kinder werden darauf gedrillt, nach verdächtigen Objekten Ausschau zu halten. Auch in ruhigen Zeiten erhält Israels Polizei jede Woche viele Anrufe besorgter Bürger, die fürchten, der alte Koffer neben dem Abfalleimer, die seltsame Wassermelone am Straßenrand, das verlassene Fahrrad könnten ein versteckter Sprengsatz sein – Erfahrungswerte. Sperrmüll darf vor diesem Hintergrund nicht aufs Trottoir gestellt werden. Jeder würde im alten Kühlschrank auf dem Bürgersteig ein potenzielles Bombenversteck wähnen. Kontrollen sind allgegenwärtig. An den Eingängen zu Supermärkten und Einkaufszentren oder zur Oper werden Handtaschen untersucht, vor jedem Parkhaus stehen Wächter, die prüfende Blicke in den Kofferraum werfen. Der akzeptierte Polizeistaat So misstrauisch die Israelis gegenüber potenziellen Terroristen sind, so viel Vertrauen genießen die Sicherheitsdienste. Einer der wichtigsten Bestandteile von Israels Sicherheitsstrategie ist die totale Grenzüberwachung: Fast alle Grenzen sind inzwischen mit elektronischen Zäunen versehen, die Einund Ausreise über den einzigen internationalen Flughafen wird elektronisch erfasst und dokumentiert. Debatten über Datenschutz finden dabei fast überhaupt nicht statt. Bürger begrüßen es eher, dass sie dank der (vorerst noch freiwilligen) Erfassung ihrer biometrischen Daten die langen Schlangen vor der Passkontrolle mit ihrem Fingerabdruck umgehen können.
Zweite Komponente der Strategie ist die intensive Überwachung durch Polizei und Geheimdienste. So dürfte fast jedes Telefongespräch abgehört und selbst der elektronische Briefverkehr überwacht werden – die meisten nehmen das als nötiges Übel hin.
Drittes Standbein der Sicherheit ist die massive Präsenz bewaffneter Beamter, privater Wachdienste und Bürger in den Straßen. Die Regierung hält bewaffnete Bürger in Krisenzeiten dazu an, ihre Waffe bei sich zu tragen. Die anderen fühlen sich durch die Präsenz wehrfähiger Mitbürger meist geschützt.