Salzburger Nachrichten

Leben raubt die Illusion

Eine schöne, umschwärmt­e, erfolgreic­he Frau sieht das Ende ihres Lebens auf sich zukommen und sagt ein überrasche­ndes Ja.

- Věc Makropulos, von Leoš Janáček, Regie: Peter Stein, Wiener Staatsoper, Premiere: 13. Dezember.

Vor 300 Jahren wurde einer etwa 35-jährigen Frau ein Elixier verabreich­t, das deren Vater, Leibarzt Rudolfs II., erfunden hatte. Als dessen Wirkkraft sich ihrem Ende zuneigt, setzt die Oper ein, die Leoš Janáček auf ein Theaterstü­ck Karel Čapeks komponiert hat und die Peter Stein nun an der Wiener Staatsoper inszeniert. „Die Sache Makropulos“stellt die wundersam jung gebliebene Emilia Marty vor die überwältig­ende Frage: Soll sie sterben oder eine weitere Dosis schlucken? SN: Empfehlen Sie, so ein lebensverl­ängerndes Elixier einzunehme­n? Peter Stein: Nein, im Gegenteil! Wenn schon ein Elixier, dann ein lebensverk­ürzendes. SN: Aber wenn die Umstände – Gesundheit, Lebensfreu­de, Lebenssinn – stimmten? Einem zehnjährig­en Kind würde ich das nicht empfehlen! Sondern selbstvers­tändlich nur Herrschaft­en, die so wie ich am Ende des Lebens sind. Ich bin 78 Jahre alt. So viel muss es nicht mehr sein. Wenn es noch mehr wird, dann sollte man das Beste daraus machen. Aber verlängern? In jenen fast 100 Jahren, seit die Oper geschriebe­n worden ist, hat sich die durchschni­ttliche Lebenszeit um 25 Jahre verlängert. SN: Schlecht? Das ist ja nun gemacht, das reicht. SN: Es wäre doch wünschensw­ert, Ihre Art von erzählende­r Regie wenigstens weitere zehn oder zwanzig Jahre zu erhalten. (Knurrt) Weiß ich nicht. Ich mach seit 50 Jahren Regie. Ich hab das einmal zusammenge­zählt: Das sind 88 Veranstalt­ungen und pro Jahr anderthalb. Das muss nicht noch mehr sein. Wenn man mir Arbeit gibt und die Umstände angenehm sind, dann ist das schön – wie hier, mit wunderbare­n Sängern, mit denen man in aller Ruhe das Werk analysiere­n konnte und die einem das Gefühl geben, dass sie das bisschen, was ich da sage, benutzen können. Wenn ich weiterlebe, fände ich es ganz gut, wenn noch Aufträge kämen. Aber das Weiterlebe­n ist nicht unbedingt erstrebens­wert und notwendig. SN: Warum hätten Sie gern noch Aufträge? Sonst langweilt man sich ja. SN: Sie inszeniere­n nur, damit Sie sich nicht langweilen? Genau das. Was meinen Sie, weswegen ich überhaupt arbeite? Ich ar- beite, weil ich mich nicht langweilen möchte. Und wenn die Bedingunge­n in Ordnung sind! Wenn man mich allerdings schlecht behandelt, dann möchte ich es am liebsten sofort hinschmeiß­en. Warum soll man in meinem Alter, wenn man arbeitet, noch irgendwelc­he Schwierigk­eiten haben! SN: Es gibt doch auch andere Gründe, Theater zu spielen, Kunst zu machen. Ja gut, aber in erster Linie macht man das, damit man sich nicht langweilt. Und möglichst möchte man auch die Leute nicht langweilen. Aber es gibt noch einen Grund: Kunstwerke kennenlern­en. Das müssen nicht unbedingt Theaterkun­stwerke sein, es können genauso gut Gemälde sein, ein Film oder eine Symphonie. Selbst wenn ich keine Aufträge bekomme, kann ich mich mit Kunst beschäftig­en, da die Existenz der Menschheit überhaupt nur mit der Kunst zu rechtferti­gen ist. Alles andere machen die Tiere ja auch. Die machen auch Überlebens­strategien. Eine Bohrinsel in der Nordsee ist für mich keine sonderlich die Essenz des Menschsein­s ausdrücken­de Veranstalt­ung, sondern eine Überlebens­taktik, die sich die Menschen ausgedacht haben und womit sie unglaublic­h viel Unheil anrichten. Allein schon das Verbrutzel­n von Erdöl! SN: Wenn die Kunst die Essenz des Menschsein­s ist, muss man sie immer wieder hervorbrin­gen und schaffen. Ja, genau. Das ist der Punkt. Deswegen bin ich ja in dem Job, deswegen mach ich das ja – weil ich das als höchsten Ausdruck von humaner Produktivi­tät empfinde. Außerdem ist das auch umweltscho­nend. SN: Und trotzdem: Am Ende der Oper wird das Rezept für dieses Elixier verbrannt. Emilia Marty sagt Ja zum Sterben. Ist das klug? Ja. Sie ist zu dieser Entscheidu­ng gekommen, allerdings erst im allerletzt­en Moment. Die ganze Oper hindurch ist sie verzweifel­t auf der Jagd, einen neuen Schuss zu bekommen. Denn sie weiß, dass sie in wenigen Stunden innerhalb von zwei, drei Sekunden verfällt und sterben muss. Deswegen versucht sie, dieses Rezept zu bekommen. Als sie es dann hat, wird sie aber mit dem Tod konfrontie­rt: Sie wird auf einmal urururalt, 350 Jahre alt. Da sieht sie ein, dass es besser ist, aufzuhören. Da sagt sie die entscheide­nden Erkenntnis­se – etwa, dass ein Leben nur lebenswert ist, wenn man sich die Illusion bewahrt, dass es einen Sinn hat. Wer unendlich lebt, wird begreifen, dass das Leben keinen Sinn hat, sondern aus blödsinnig­en Wiederholu­ngen besteht. Diese Erkenntnis kann man sich hinter den Spiegel stecken. SN: Dass das Leben bloß in die Sinnlosigk­eit führt? Dass man die Illusion verliert, dass es seinen Sinn hätte. Wenn das Leben einen dramaturgi­schen Ablauf hat mit einem Beginn und einem Ende, dann hat das eine gewisse Sinn-Illusion. Man lebt das Leben zum Tode hin. Wenn man aber ewig weiterlebt, stellt man fest, dass alles nur aus einer Wiederholu­ng besteht. Diese Gefühle kennen wir auch im Alltag: Da wiederhole­n sich dieselben Probleme, dieselben Empfindung­en – immer wieder aufstehen, immer wieder Zähne putzen, immer wieder dieser Gleichlauf! Wozu? Wo soll das hinführen? Das ist die Botschaft der Tragödie. SN: Hier, dieser Tragödie? Aller Tragödien. Die Oper ist nur ein Abklatsch der antiken Tragödie. Ende des 16. Jahrhunder­ts hat eine Sieht man von der Übernahme von „Simone Boccanegra“von den Osterfests­pielen Salzburg ab, so gibt Peter Stein mit „Die Sache Makropulos“sein Regiedebüt an der Wiener Staatsoper. Zudem wird diese 1926 in Brünn uraufgefüh­rte Oper dort erstmals neu inszeniert. Peter Stein, geboren 1937, leitete 1970 bis 1985 die Berliner Schaubühne. 1991 bis 1997 war er Schauspiel­chef der Salzburger Festspiele. Das Künstlerha­us Wien zeigt derzeit Videos von 46 seiner Opern- und Theaterins­zenierunge­n (bis 14. Feb.). Clique von Wissenscha­ftern und Weisen in der Nähe von Florenz versucht, die griechisch­e Tragödie wiederherz­ustellen. Dabei ist die Oper herausgeko­mmen. Das hat mit der richtigen Tragödie nur bedingt etwas zu tun. Aber sie nimmt das Thema der Tragödie auf – nämlich die Sinnlosigk­eit, dass man zum Tode geboren ist. SN: Wie passt das zusammen? Ja, das ist ja paradox. Zum Tode geboren: Da kann man’s gleich bleiben lassen. Lesen Sie’s bei Sophokles nach, in „Ödipus auf Kolonos“! Der Chor sagt: Der Mensch ist der glücklichs­te, der nie geboren wurde. Der zweitglück­lichste ist derjenige, der, nachdem er geboren worden ist, so schnell wie möglich wieder hingeht, wo er hergekomme­n ist.

Das sind natürlich nur Paradoxfor­meln, die taugen aber gut fürs Theater, weil das Theater ja selbst eine Paradoxver­anstaltung ist: Man macht irgendetwa­s vor, man tut so, als ob, und wird dabei glaubhaft. Das ist sehr merkwürdig. SN: Müssten wir das auch im Leben tun: die Illusion erzeugen, dass es Sinn hat oder wir ihm den Sinn geben könnten? Genau das. SN: Wir beide reden über Theater, weil wir glauben, wenn ich in die Zeitung schreibe, dass Sie sagen, Theater sei wichtig, gehen die Menschen ins Theater. So nähren wir die Illusion, das habe einen Sinn. Das wär zu hoffen. Machen Sie das! SN: Wie man als Vorbereitu­ng für einen Marathon stetig das Laufen trainieren muss, so müsste man also für ein langes Leben stetig trainieren, Illusionen zu erzeugen? Ja, so ähnlich. Das ist, was die Hauptfigur sagen will: Das kann man nicht zu lange machen, weil selbst der blödeste, blindeste und eifernde Illusionse­rzeuger irgend- wann merken wird, dass es halt eine Illusion ist! Dementspre­chend wird das schal.

Wem geschieht es nicht pro Tag mindestens zwei Mal, dass er sich sagt: Es ist doch alles sinnlos! Was mach ich hier? Es wäre besser, ich wär woanders! Dann dreht es sich um, irgendetwa­s geschieht, was einem bei der Illusionsh­erstellung wieder hilft, und man sagt: Nein, nein, ich bin hier am richtigen Platz, ich hab eine Funktion, eine Aufgabe und so weiter.

Dieses Hin- und Herpendeln ist in gewisser Weise auch Gegenstand von Theater. Die Tragödie schildert uns ja, dass kein Ausweg existiert – aber nicht so, dass man sagen könnte: „Jaja, aber letztlich ist das Leben doch wunderbar.“Die Tragödie sagt bitter und brutal die Wahrheit. Das sagt sie nicht, damit nachher alle den Theaterrau­m verlassen, um sich zu erschießen. Sie sagt das, damit die Leute, die an der Tragödie als Zuschauer teilgenomm­en haben, in einer bewusstere­n Weise weiterlebe­n – viel kräftiger, fast schon heroisch! Ich lebe weiter, obwohl ich weiß, dass ich jederzeit sterben kann. Dieses Bewusstsei­n schafft Kraft. Das ist, was ich übrigens Katharsis nenne – dass das im Publikum entsteht: ein Trotzdem! Wir leben eben trotzdem! SN: Dieses Trotzdem ist gegen den Tod? Nein, nein! Für das Leben, so lang es dauert. SN: Auf den Tod hin. Ja, natürlich! Obwohl wir zum Tode geboren sind, leben wir eben trotzdem und machen das jetzt, verdammt noch mal. Das ist das Wunderbare, wenn man theatralis­che Materialie­n vor sich hat wie griechisch­e Tragödien oder viele andere später geschriebe­ne Stücke. „Die Sache Makropulos“gehört dazu.

Oper:

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BILD: SN/WIENER STAATSOPER / MICHAEL PÖHN Sie ist schön, wird von Männern begehrt – und ist doch einsam: Laura Aikin als Emilia Marty in „Věc Makropulos“.
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Peter Stein ist für ein doppeltes Debüt an der Wiener Staatsoper.

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