Europa, die Leiche, existiert nicht mehr
Aus Texten des großen österreichischen Schriftstellers Joseph Roth wird im Wiener Akademietheater das Ende des Abendlandes gezimmert.
Das „Hotel Europa“, wie es im Akademietheater auftaucht, ist Brennpunkt der Zeitzustände, eine Allegorie der Gesellschaft. Mit dem Roman „Hotel Savoy“(1924) und anderen Texten des bedeutenden österreichischen Schriftstellers Joseph Roth (1894–1939) wirft der chilenisch-portugiesische Regisseur Antú Romero Nunes seinen Blick auf das Konstrukt Europa.
Roth, der an den Umständen und den Folgen des Alkohols zugrunde ging, sah im „neuen“Europa nach dem Ersten Weltkrieg nichts als eine Leiche, die Selbstmord begeht. „Humanität, Zivilisation, Europa, selbst der Katholizismus: ein Ochsenstall ist noch klüger“, schreibt er aus Paris an den Freund Stefan Zweig.
Durch die sieben Stockwerke des Hotels Savoy (oder hier: Europa) leiten vier in violette Hotelpagen-Uniformen gekleidete Liftboys (Aenne Schwarz, Katharina Lorenz, Fabian Krüger, Michael Klammer). An neuralgischen Punkten der Geschichte machen sie Halt, verweben Roths Essay „Der Antichrist“(1934) mit der Novelle „Stationschef Fallmerayer“(1933), Passagen aus „Die Geschichte von der 1002. Nacht“(1939) mit Texten des Teams rund um den Regisseur – diese wurden gemeinsam mit dem Dramaturgen Florian Hirsch als Reaktion auf die aktuelle Situation in Europa und Österreich verfasst.
Hier erweist sich der an der Burg gastierende Schauspieler Michael Klammer als besonderer Gewinn, etwa wenn er in die Rolle eines Grenzsoldaten schlüpft, dessen Hauptsorge darin liegt, ob AidsHandschuhe getragen werden. Woher soll man schließlich wissen, welche Krankheiten die „Dreckerten“verbreiten? Bei Kaffee und Kuchen reißen die vier Kaiser-FranzJoseph-Bärte tragenden Darsteller rassistische Witze, während das auf den österreichischen Dialekt hinweisende Schild „Bitte ned stean“(es müsste lautsprachlich wohl „schtean“heißen) die Ignoranz und Dekadenz des Verwaltungsapparates verdeutlichen soll.
Nunes bedient jedoch weder Parodie noch Ironie, in seiner Inszenierung dominiert stattdessen besserwisserisches Behaupten von Klischees. Vor allem aber das unstrukturierte Flickwerk aus Literatur, Geschichte und Spielweisen stimmt ärgerlich. Daraus resultiert ein oberflächlicher Abend, der von allem etwas liefert, ohne selbst Position zu beziehen.
Die vielen Ideen und Figuren treffen in der von Bühnenbildner Matthias Koch eingerichteten Hotellobby aufeinander. In der Atmosphäre zeitlos-morbider Nostalgie wird der Antichrist als ebenbürtiges Wesen unter den Menschen heraufbeschworen. „Im Gewande des kleinen Bürgers eines jeden Landes“zerstört er Europa, die Leiche, die ohnehin längst nicht mehr existiert.
Übrig bleiben traurige Clowns, Grenzgänger zwischen Kunstund Körperhandwerk, die ohne Sprache funktionieren und die Umstände verkehren. Sie personifizieren Roths Idee von einer umgekehrten Allegorie der Gesellschaft: Bei ihm wohnen nämlich die reichen Kapitalisten unten und die Armen in den oberen Etagen. Zumindest für kurze Zeit herrscht hier eine andere Ordnung. Doch am Schluss stirbt auch der Clown, und das Ende des Abendlandes naht.
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