„Da ist noch viel Holz zu hacken“
Die Anfälligkeit junger Muslime für Extremismus ist ein klassisches Jugendproblem. Wie viel hat es mit dem Islam zu tun und wie kann der Islam seine aufklärerische Tradition beleben, die „verstaubt“im Köfferchen auf dem Dachboden liegt?
Der muslimische Religionspädagoge und deutsche Professor Harry Harun Behr hat eine jüdische Mutter, wurde katholisch getauft und ist mit 17 nach einer IndonesienReise zum Islam konvertiert. Er widerspricht der These, dass der Koran Gewalt legitimiere, und fordert gleichzeitig von seinen Glaubensbrüdern weniger Wehleidigkeit, wenn es um Kritik und Satire geht. SN: Was haben die Terroristen des IS mit dem Islam zu tun? Behr: Es hat was damit zu tun, aber auch wieder nichts. Denn diese Form des Terrorismus geht weder aus der islamischen noch aus der arabischen Kulturgeschichte hervor. Die Traditionen, auf die sich das Kalifat des IS beruft, sind erfunden. Denn der IS gibt vor, an die Ursprungszeit Mohammeds anzuknüpfen – unter Auslassung von 1500 Jahren Theologie und Kulturgeschichte. Das machen auch salafistische Prediger. Die schicken mich weg, wenn ich ihnen sage: Moment mal, wir haben eine Friedenspflicht. Sie sagen: Koran ist Koran, Islam ist Islam, Ungläubige sind Ungläubige.
Doch Tatsache ist: Diese Leute haben keine islamisch-theologische Legitimation. Sie sind zu verurteilen und zu ächten. Alle führenden Gelehrten der muslimischen Welt haben den IS als unislamisch, sogar als Monster bezeichnet. Wenn heute noch wer sagt, die Muslime müssen sich distanzieren, sage ich: Sorry, aber schaut einmal, was da in den vergangenen Jahren an Verlautbarungen rauskam. SN: Ihr Wiener Kollege Ednan Aslan sieht das anders. Er sagt, gerade die klassische muslimische Theologie legitimiere Gewalt. Ich sehe das anders. Denn gerade was in Saudi-Arabien gelehrt wird, ist keine klassische Theologie. Das ist eine postmoderne Konstruktion, die nicht weit weg ist vom IS, quasi die Hochglanzausgabe von ein und demselben. Ein klarer Missbrauch des Islams, der sich auch in der Türkei anbahnt. SN: Auch Sie sind dafür, den Koran weiterzuentwickeln. Wie soll das vonstattengehen? Wir dürfen nicht sagen: Wir machen das genauso, wie es im Koran steht. In der Zeit, in der der Koran entstand, galt weitgehend das römische Recht. Es kennt das Recht des Hausherrn, Frau und Kinder zu töten – ohne gerichtet zu werden. Im Koran in Sure 4, Vers 34, steht nun, dass Männer ihre Frauen schlagen dürfen. Weiter heißt es aber, dass es besser wäre, ein Schlichtungsverfahren einzuleiten. Der Frau wird das Recht eingeräumt, einen eigenen Schlichter zu bestimmen. Das war völlig revolutionär für damals! Wir müssen also das Prinzip verstehen: dass sich etwas, was im Koran zur Zeit seiner Entstehung vorbildlich war, weiterentwickelt hat. Der Koran ist kein Sackbahnhof, wo alle Leute aussteigen, sondern nichts anderes als eine Weichenstellung. SN: Wollen Sie auch einen Islam europäischer Prägung? Diese Konfrontation Europa gegen den Rest der Welt finde ich nicht richtig. Es gibt seit den 1960er-Jahren eine freie und unbehelligte Theologie in Frankreich, England, den USA, Kanada. Es gibt Länder wie Malaysia, Indonesien, es gibt eine freie Theologie in Südafrika seit dem Ende der Apartheid. Man muss jetzt auch Marokko und Tunesien dazunehmen, Beirut. Selbst in der Türkei gibt es eine progressive Theologie, die sich verzweifelt gegen die Machtusurpation Erdoğans zu wehren versucht. Ich sehe das also differenziert. Und seit wir in Deutschland theologisch-muslimische Lehrstühle haben – in Österreich soll das ja noch kommen –, haben wir viele Anfragen von Postdoktoranden aus islamischen Ländern, die hier ihre Studien fortsetzen wollen, weil sie in ihren Ländern mit ihren Thesen Schwierigkeiten befürchten. Das ist eine große Chance. Das ist europäisch, aber nicht plakativ humanistisch oder aufklärerisch, sondern zunächst einmal wissenschaftlich frei. SN: Es braucht also keine islamische Aufklärung? Nein, der Islam muss nur seine eigene aufklärerische Tradition wiederbeleben, die Hunderte Jahre vor der europäischen Aufklärung stattgefunden hat und wesentliche Impulse für diese gegeben hat. Diese Tradition liegt bloß verstaubt im Köfferchen auf dem Dachboden.
Der Leidensdruck gerade unter jungen Muslimen ist groß. Sie kennen islamische Tradition von zu Hause mitunter nur insofern, als beispielsweise Schwule in die Hölle kommen. Die Risse gehen durch die Frühstückstische der muslimischen Familien. Das treibt die Leute in die Hörsäle, weil sie merken, dass sie zu Hause, in den Moscheen keine Antworten kriegen. Und da muss man an die Koran-Hermeneutik ran. SN: Viele Junge sehen ihr Heil aber bei Extremisten. Wie kann man sie davor bewahren? Das ist kein Islamproblem, sondern ein Jugendproblem. Da gibt es Phasen, wo ganz radikal entschieden wird: Ab sofort bin ich Veganer. Und denken Sie nur an die rechtsextremen Bewegungen in Europa: Die wissen genau, warum sie Zugriff auf Jugendbewegungen bekommen müssen. Muslimische Jugendliche sind in erster Linie Jugendliche. Wenn sie sich in der Form radikalisieren, dann heißt das zunächst einmal, dass sie den Anschluss an Jugendkulturen im Westen gefunden haben. Denn dieses Phänomen der jugendlichen Radikalisierung kennen wir aus Indonesien und Malaysia gar nicht. Im Übrigen fallen die genauso schnell wieder ab. Also die meisten, die Pierre Vogel (konvertierter salafistischer deutscher Prediger, Anm.) hinterherlaufen, sagen ihm morgen Tschüss – weil sie aus der Sache herauswachsen. SN: Wie kommen Sie da drauf? Das beobachten wir. Das messen wir durch narrative Interviews und Studien. Das Problem ist, dass dann immer noch eine Zahl übrig bleibt, sie sich in dieser Radikalisierung verfestigt und tatsächlich austickt. SN: Sie sind selbst mit 17 zum Islam konvertiert. Warum sind gerade junge Konvertiten so anfällig für Extremismus? Dafür gibt es keine generelle Relevanz. Aber ich hatte selbst eine sehr radikale Phase. Ich weiß, wie es sich anfühlt, zu einer Gruppe zu gehören, in der man überzeugt ist: Wir als Minderheit haben recht und die Mehrheit hat unrecht. Hinzu kommt die Wut der „angry young men“– also der wütenden jungen Männer und Frauen – über die Doppelmoral des Westens: Einerseits der Blick auf Menschenrechte, Demokratie, Freiheit. Andererseits dieser ungeschminkte postkoloniale Habitus gegenüber der islamischen Welt, dem Nahen und Mittleren Osten, der als Spielwiese für energie- und rohstoffabhängige Staaten gesehen wird. Junge Leute sind darauf angewiesen, sich in ein sinnstiftendes System integriert zu fühlen. Wenn da ein Rattenfänger kommt und sagt: Du bist für Höheres geboren, komm zu uns – kann es zu einem Kurzschluss kommen. SN: Werden Sie als Konvertit immer ernst genommen? Ja und nein. Ich bin in der Theologie so etwas wie ein Linksausleger und werde gelegentlich angegangen von islamischen Verbänden. Auf der anderen Seite komme ich aus der islamischen Bewegung, die Leute kennen meine Vergangenheit. Durch die Zustimmung von zwei ziemlich konservativen Vereinen in Hessen habe ich erst die Lehrbefugnis in Frankfurt bekommen. Die sagen, okay, halte keine Freitagsansprachen, aber bilde unsere Leute für die Schulen richtig aus, damit sich in der islamischen Bewegung etwas verändert. Auch dass meine Mutter Jüdin ist und ich dem halachischen Verständnis nach Volljude bin, führt immer wieder zu Debatten. Gerade arabische Studenten fragen da schon einmal nach. Dann erzähle ich, warum ich konvertiert bin. Aber das muss geklärt werden. SN: Die Muslime, wird immer wieder gefordert, müssten lernen, Kritik auszuhalten. Wie sehen Sie das? Genau so. Wir haben eine abendländische Kultur der Religionskritik und das ist ein sehr fruchtbarer Diskurs. Die islamische Theologie muss sich der gesamten Gesellschaft gegenüber plausibel machen, und nicht nur den Muslimen gegenüber. Und ja, auch denen gegenüber, die der Religion den Stinkefinger zeigen. Man muss Satire, man muss Kritik als Teil der kulturellen Artikulation begreifen und wissen, dass man dieselbe auch selbst ausüben darf. Da ist noch eine Menge Holz zu hacken.
Zur Person:
„Ich hatte selbst eine radikale Phase.“