Salzburger Nachrichten

„Ich habe mich sozusagen verloren“

Betroffene ringen um Worte, erkennen die Familie nicht mehr – Alois Alzheimer starb vor 100 Jahren.

- Alois Alzheimer, Psychiater und Neuropatho­loge. SN, dpa

„Wie heißen Sie?“„Auguste.“„Familienna­me?“„Auguste.“„Wie heißt ihr Mann?“„Ich glaube Auguste.“

Der Dialog schreibt Medizinges­chichte. Als Auguste Deter 1901 von ihrem Mann verwirrt und orientieru­ngslos in die Anstalt gebracht wird, ist sie erst 51 Jahre alt. Ihr Gedächtnis­verlust gibt den Ärzten Rätsel auf – und fasziniert den Psychiater Alois Alzheimer. Er dokumentie­rt Gespräche und Beobachtun­gen, untersucht nach dem Tod der Frau ihr Hirn unter dem Mikroskop und entdeckt einen massiven Zellschwun­d und ungewöhnli­che Ablagerung­en. Alzheimer ist überzeugt, dass diese Veränderun­gen mit dem Gedächtnis­schwund zu tun haben.

Zu seinem 100. Todestag (19. Dezember) erinnern Mediziner an seine Entdeckung. Heilen können sie die Alzheimer-Krankheit bis heute nicht – obwohl weltweit „irrsinnige Geldsummen“ausgegeben werden, wie Christian Haass vom Deutschen Zentrum für Neurodegen­erative Erkrankung­en sagt.

Als Alois Alzheimer 1906 bei der 37. Versammlun­g Südwestdeu­tscher Irrenärzte (wie das damals hieß) erstmals über das Krankheits­bild und einen „eigenartig­en schweren Erkrankung­sprozess der Hirnrinde“berichtet, werten seine Kollegen das als Kuriosität. Gedächtnis­verlust bei Jüngeren war selten. Und warum Großmutter und Großvater so vergesslic­h waren, hinterfrag­te damals niemand.

Heute ist Demenz eine Volkskrank­heit, das Risiko steigt mit dem Alter: Bei den 85- bis 89-Jährigen ist bereits jeder Vierte betroffen. Demenz sei eine „tickende Zeit- bombe“, sagt Haass. „Wir müssen alle nur alt genug werden und bekommen die Krankheit.“

Bis 2050 rechnet die Deutsche Alzheimer Gesellscha­ft (Berlin) mit drei Millionen Demenzpati­enten. Aufgrund besserer Lebensumst­ände erkranken die Menschen zwar später. „Der Zeitpunkt der Erkrankung rutscht weiter nach hinten, trotzdem nehmen die Zahlen wegen der steigenden Lebenserwa­rtung zu“, sagt Geschäftsf­ührerin Sabine Jansen.

Lebensstil und Ernährung spielen eine Rolle. Sport, geistige Beweglichk­eit und Neugier können die Krankheit hinauszöge­rn. Studien wiesen auch genetische Dispositio­nen nach. Nicht immer ist eine solche Feststellu­ng hilfreich. Mancher verfällt danach in Depression – und erkrankt damit noch schneller.

Das Vergessen beginnt mit der Ablagerung von Eiweißfrag­menten, Amyloid-Peptiden. Die Zellen schaffen es nicht, diese Plaques loszuwerde­n. Sie stören die Reizübertr­agung zwischen den Hirnzellen, diese werden funktionsu­ntüchtig und sterben ab. Betroffene ringen um Worte, können Telefon und Bankomat nicht mehr bedienen, erkennen Familie und Freunde nicht mehr. Angehörige finden oft Sammlungen von Zetteln, Notizen auf Schnipseln – sie zeugen von Verzweiflu­ng.

Auch die Gesellscha­ft sei hier gefragt, sagt Jansen. „Wenn zum Beispiel jemand immer mit einem 100-EuroSchein bezahlt, weil er nicht mit Geld umgehen kann, oder jeden Tag zur Bank geht, um Geld abzuheben, könnte man einmal fragen, ob das seine Richtigkei­t hat.“Es gehe um Aufklärung, nachbarsch­aftliche Hilfe, Abbau von Scheu.

Bisher können Medikament­e den Verlauf nur verlangsam­en. Ärzte setzen vorsichtig­e Hoffnung in eine Art Impfung. Bei der Immunisier­ung gegen das Peptid Amyloid aktivieren Antikörper Fresszelle­n, die Plaques entfernen. Bei Mäusen konnten Plaques auf diese Weise aufgelöst werden, sagt Haass. Bei Menschen konnte die Immunisier­ung selbst in einem frühen Stadium den Gedächtnis­verlust nur stoppen. Dennoch scheint das ein Weg zu sein.

Das Vergessen bringt Angst, Scham und Misstrauen. „Ich habe mich sozusagen verloren“, klagte Auguste im Gespräch mit Alois Alzheimer. Ihre Krankheit wurde nach seinem Tod nach ihm benannt. Er starb mit 51, jünger als seine Patientin.

 ?? Bild: SN ??
Bild: SN

Newspapers in German

Newspapers from Austria