Schweden stößt an seine Grenzen
Schweden ist bekannt für sein liberales Asylrecht – doch das ist bald Geschichte.
Ali Khalil sollte ein Transitflüchtlingsheim für 50 Personen im engen Innenhof eines Wohnblocks im Stockholmer Stadtteil Södermalm organisieren. Den Auftrag hatte er von seinem Chef beim Islamischen Hilfswerk Schweden bekommen. Hier, in der Innenstadt, wohnen fast nur Schweden, im betroffenen Mietshaus vor allem Arbeiter und Angestellte.
„Eigentlich ist es viel zu klein dort, aber nun, da der schwedische Winter kommt, ist es wichtig, dass die Menschen etwas zum Übernachten haben“, sagte Khalil und parkte den Lastwagen, vollgeladen mit Betten, Matratzen, Stühlen und Tischen, schräg auf dem Gehsteig. Eine ältere Hausbewohnerin blieb stehen, fragte den 22-Jährigen, was denn das werden solle. Khalil erklärte es ihr. „Oje, wie viele sollen denn hier schlafen?“, fragte die Dame, scheinbar missmutig. Doch 15 Minuten später kam sie zurück. Im Schlepptau hatte sie zehn weitere Hausbewohner. „Wir dachten, da ist eine Protestdemo im Anmarsch“, erzählt Khalil. Doch statt zu streiten, begannen die Nachbarn zu helfen, die Möbel in das Flüchtlingsheim in einer früheren Vorschule zu bringen. „Wir waren in Nullkommanichts fertig. Das war unglaublich!“, sagt der Hilfsarbeiter. Die Dame hatte bei den Nachbarn geklingelt und um Hilfe bei der Einrichtung der Unterkunft gebeten. Einige brachten Werkzeug mit, Spielzeug, Saft und Kuchen für die Helfer.
Solche Geschichten von der schwedischen Gastfreundschaft gibt es unendlich viele. Auf Plakaten wurden Flüchtlinge mit „Refugees Welcome!“empfangen. Am Malmöer Hauptbahnhof, wo die meisten Flüchtlinge aus Dänemark ankommen, waren zeitweise mehr freiwillige Helfer als Flüchtlinge anzutreffen. Das 9,8 Millionen Einwohner zählende Land liegt bei der Flüchtlingsaufnahme noch weit vor Deutschland. Allein 2014 kamen 7,8 Asylerstanträge auf 1000 Einwohner. In Deutschland waren es 2,1 Anträge. Noch im September forderten 44 Prozent des Volkes, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen als zuvor. Nur 30 Prozent wollten weniger. 31 Prozent gaben gar an, dass sie in ihrem Heim einen Flüchtling aufnehmen könnten.
Nun kollabiert das Aufnahmesystem. Selbst rot-grüne Kommunen weigern sich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Eine 59-ProzentVolksmehrheit will weniger Flüchtlinge. „Öffnet eure Herzen für die Flüchtlinge“, sagte der bürgerliche Ex-Regierungschef und Flüchtlingsfreund Frederik Reinfeldt einst. Nun hat seine Partei eine Kehrtwende vollzogen und fordert drastische Einschränkungen. Die rot-grüne Minderheitsregierung von Ministerpräsident Stefan Löfven zog nach. Der hatte noch kürzlich gesagt: „Mein Europa kennt keine Grenzen.“Grünenchefin Åsa Romson weinte gar bei der Bekanntgabe des Kurswechsels Ende November, trägt ihn aber gegen den erheblichen Protest aus der Basis mit. Die Grünen galten stets als die mit Abstand flüchtlingsfreundlichste Partei Schwedens. Das ist nun Geschichte. Die schrittweise Einführung umfangreicher Grenzkontrollen macht es spätestens ab Jänner für Menschen ohne Dokumente praktisch unmöglich, nach Schweden zu kommen. Es gibt nur noch befristete Aufenthaltsgenehmigungen, der Familiennachzug wurde erheblich erschwert.
Rot-Grün erwog zudem gar die Schließung der Öresundbrücke, die das Land mit Dänemark verbindet. Zudem garantiert Schweden keine feste Unterbringung mehr. Mitten im nordischen Winter müssen Flüchtlinge in Zelten und kurzfristig auch einmal im Freien schlafen. „Geht nach Deutschland, da ist zumindest für Wohnraum gesorgt“, hieß es offen in Stockholm.
Der Kurswechsel wirkt. Während im Oktober 10.000 Flüchtlinge pro Woche nach Schweden kamen, waren es in den ersten sieben Tagen im Dezember nur 4721. Die Zahl soll 2016 auf insgesamt 1000 pro Woche vermindert werden. Allein in den ersten zehn Dezembertagen haben 300 Asylbewerber ihre Anträge sogar zurückgezogen, weil sie lieber in ein anderes Land, etwa Deutschland, wollen. Grund für den Meinungsumschwung waren auch Prognosen über einen weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen und die zunehmende Schließung der Grenzen in den Nachbarländern. Schweden fühlt sich alleingelassen.
„Seit 2011 haben wir 100.000 Syrier aufgenommen, das ist ein Prozent unserer Bevölkerung. Wenn alle EU-Länder das getan hätten, hätte Europa fünf Millionen Syrier aufnehmen können. Wir hätten dann gar keine europäische Flüchtlingskrise“, sagte Migrationsminister Morgan Johansson. In Österreich (8,5 Millionen Einwohner) dürfte es bis Jahresende deutlich mehr als 80.000 Asylanträge geben.