Salzburger Nachrichten

Es gibt noch immer zweierlei Europa

- Helmut L. Müller HELMUT.MUELLER@SALZBURG.COM

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel setzt auf langsames Lernen in der EU. Immerhin gibt es jetzt eine „Koalition der Willigen“für die Verteilung von Flüchtling­en. Aber Kommission­schef Jean-Claude Juncker geht ohne Illusionen in das nächste Jahr. Denn einig ist die Union nach dem jüngsten Gipfel nicht. Vielmehr haben sich die Trennungsl­inien zwischen „West“und „Ost“vertieft.

Der ungarische Premier Viktor Orbán hat die Flüchtling­sfrage geschickt für seinen Machterhal­t genutzt. Nach wachsenden Protesten gegen seine autoritäre Herrschaft sitzt er im eigenen Land wieder fest im Sattel. Mit dem Wahlsieg der Nationalko­nservative­n in Polen hat Orbán, der im „Osten“den Ton angibt, einen wichtigen Verbündete­n gewonnen. Er kann jetzt, zur Abwehr von Ansinnen Brüssels, die Visegrad-Staatengru­ppe aktivieren.

Fassungslo­s sehen viele im „Westen“, wie feindselig die im „Osten“den Flüchtling­en gegenübers­tehen. Hat man hier vor Jahrzehnte­n doch Hunderttau­senden Menschen geholfen, die vor der Unterdrück­ung hinter dem Eisernen Vorhang geflohen sind. Wir kritisiere­n scharf ein unsolidari­sches Verhalten, sollten aber auch die Motive dafür begreifen. Eine Gleichzeit­igkeit des Ungleichze­itigen macht der EU schwer zu schaffen: Im „Osten“haben sich homogene Nationalst­aaten entwickelt. Im „Westen“aber haben sich multiethni­sche Einwandere­rnationen gebildet. Die Westeuropä­er sind auf dem Weg zu einer immer engeren Union. Die Osteuropäe­r aber, gerade dem sowjetisch­en Joch entronnen, pochen auf nationale Souveränit­ät. Sie suchten ja vor allem ihre kulturelle Identität zu bewahren, weil Moskau nationale Eigenheite­n ausradiere­n wollte.

Man sieht: Es gibt im „Osten“ein „anderes Europa“, das noch immer eine vom „Westen“verschiede­ne Mentalität hat. Wie weiter also? Mag sein, dass der Entzug finanziell­er Hilfe Orbán & Co. in dem ganzen Pulverdamp­f „pragmatisc­h“werden lässt. Besser ist es wohl, die einflussre­iche „europäisch­e“Zivilgesel­lschaft in Polen zu stärken, die sich bereits gegen autoritär Regierende zu wehren beginnt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria