Es gibt noch immer zweierlei Europa
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel setzt auf langsames Lernen in der EU. Immerhin gibt es jetzt eine „Koalition der Willigen“für die Verteilung von Flüchtlingen. Aber Kommissionschef Jean-Claude Juncker geht ohne Illusionen in das nächste Jahr. Denn einig ist die Union nach dem jüngsten Gipfel nicht. Vielmehr haben sich die Trennungslinien zwischen „West“und „Ost“vertieft.
Der ungarische Premier Viktor Orbán hat die Flüchtlingsfrage geschickt für seinen Machterhalt genutzt. Nach wachsenden Protesten gegen seine autoritäre Herrschaft sitzt er im eigenen Land wieder fest im Sattel. Mit dem Wahlsieg der Nationalkonservativen in Polen hat Orbán, der im „Osten“den Ton angibt, einen wichtigen Verbündeten gewonnen. Er kann jetzt, zur Abwehr von Ansinnen Brüssels, die Visegrad-Staatengruppe aktivieren.
Fassungslos sehen viele im „Westen“, wie feindselig die im „Osten“den Flüchtlingen gegenüberstehen. Hat man hier vor Jahrzehnten doch Hunderttausenden Menschen geholfen, die vor der Unterdrückung hinter dem Eisernen Vorhang geflohen sind. Wir kritisieren scharf ein unsolidarisches Verhalten, sollten aber auch die Motive dafür begreifen. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen macht der EU schwer zu schaffen: Im „Osten“haben sich homogene Nationalstaaten entwickelt. Im „Westen“aber haben sich multiethnische Einwanderernationen gebildet. Die Westeuropäer sind auf dem Weg zu einer immer engeren Union. Die Osteuropäer aber, gerade dem sowjetischen Joch entronnen, pochen auf nationale Souveränität. Sie suchten ja vor allem ihre kulturelle Identität zu bewahren, weil Moskau nationale Eigenheiten ausradieren wollte.
Man sieht: Es gibt im „Osten“ein „anderes Europa“, das noch immer eine vom „Westen“verschiedene Mentalität hat. Wie weiter also? Mag sein, dass der Entzug finanzieller Hilfe Orbán & Co. in dem ganzen Pulverdampf „pragmatisch“werden lässt. Besser ist es wohl, die einflussreiche „europäische“Zivilgesellschaft in Polen zu stärken, die sich bereits gegen autoritär Regierende zu wehren beginnt.