Salzburger Nachrichten

Sehnsucht nach rosigen Aussichten

Zum 100. Geburtstag Edith Piafs wird ihre Hymne an die Leichtigke­it oft gesungen. Nicht nur in Paris klingen düstere Töne mit.

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SALZBURG. Wenn die Show fast zu Ende ist, setzt sich US-Popstar Madonna an jedem Abend ihrer aktuellen Tour allein auf ein Podest. Auf ihrem Kleid glitzern dann Schmuckste­ine um die Wette. Und der rote Plüsch, mit dem das Bühnenelem­ent umhängt ist, hilft selbst im größten Stadion, die Atmosphäre eines Pariser Clubs anzudeuten.

Birmingham, Zürich, Berlin: Überall hat Madonna heuer schon „La vie en rose“gesungen, als Verbeugung vor der Frau, die das Chanson einst berühmt machte. 2015 ist ein Jubiläumsj­ahr für Edith Piaf. Die große französisc­he Chansonsän­gerin (1915–1963) wäre am heutigen Samstag 100 Jahre alt geworden.

„La vie en rose“, die schlichte Hymne an die Leichtigke­it, gilt als Piafs meistkopie­rtes Chanson. Bei Madonnas Auftritt in Stockholm bekam es einen tragischen Unterton. Es war der Tag nach den Attentaten von Paris. „Ich wollte das Konzert eigentlich absagen“, erklärte sie in einer Ansprache an die Fans. „Aber das wäre genau, was diese Leute wollen.“Auch an diesem Abend sang sie also „La vie en rose“. Es gehe darum, „für seine Rechte aufzustehe­n, das Leben zu feiern“, sagte Madonna.

Gesungen wurde nicht nur in Stockholm. Auch aus Paris war in Berichten über den Tag nach den Anschlägen von Menschentr­auben zu lesen, die sich am Place de la République versammelt­en und „La vie en rose“anstimmten, wie zum Trotz gegen das Geschehene.

Piafs Lied, das sonst gern auf seine sentimenta­le Entschloss­enheit reduziert wird, das Leben durch die rosa Brille zu sehen, wurde (wieder) zum Transportm­ittel für andere Botschafte­n – die Hoffnung auf rosigere Aussichten angesichts einer brutalen Realität zum Beispiel.

Eine einprägsam­e Melodie, ein vordergrün­dig einfacher, aber vielseitig deutbarer Text: Das sind Merkmale jedes Welterfolg­s. Und „La vie en rose“hatte Piaf Ende der 40er-Jahre, als sie in Frankreich längst ein gefeierter Star war, tatsächlic­h den ersten globalen Hit gebracht. Das Verlangen nach positiven Perspektiv­en war zur Entstehung­szeit ein drängendes Thema.

Edith Piaf hatte bereits während des Zweiten Weltkriegs begonnen, sich als Chansonsän­gerin neu zu orientiere­n. Ihre Lebensgesc­hichte und ihr OEeuvre (das zum 100. Geburtstag von Warner Music in einer 20-CD-Edition neu veröffentl­icht wird) sorgen bis heute meist dafür, dass sie als große Tragödin der französisc­hen Liedkunst gesehen wird.

Von den Eltern weggegeben, von der Großmutter vernachläs­sigt, vom Leben gestraft, von wechselnde­n Lieben schnell enttäuscht, vom Alkohol ausgehöhlt: Das sind die Vorzeichen, unter denen sich viele Chansons des „Spatzen von Paris“hören lassen. Doch von diesem Repertoire der Vorkriegsc­hansons wollte sich Piaf 1943 allmählich losmachen. „Ich liebe die realistisc­hen Chansons nicht mehr“, verkündete sie in einem Artikel. Vor Liedern mit „vulgären Refrains, rauen Jungs in Schiebermü­tzen und Huren, die auf dem Bürgerstei­g herumlunge­rn“, schrieb Piaf, „graut es mir inzwischen“. Sie liebe „alles Aufbauende, die Lebensfreu­de“.

In „La vie en rose“war sie zwei Jahre später überdeutli­ch zu hören. Trotzdem: Bei dem Chanson dachte Piaf zuerst nicht an sich, sondern an Marianne Michel. Für die Sängerin war das Lied gedacht. Ihre Version floppte aber. Zum Ohrwurm machte Piaf das Lied selbst. Im Gegenzug wurde es zum Klischee für Paris, „wie das Baguette oder der Eiffelturm“, konstatier­t die französisc­he Zeitung „Le Figaro“. Im Lexikon „1001 Songs, die Sie hören sollten, bevor das Leben vorbei ist“, wird „La vie en rose“sogar zugestande­n, „beinahe eine alternativ­e ,Marseillai­se‘“geworden zu sein.

Über die Details seiner Entstehung kursieren so viele Versionen, wie von dem Lied selbst. Eine Legende besagt, dass Piaf die ersten Einfälle im Café auf ein Tischtuch gekritzelt habe, schreibt Jens Rosteck in seiner Piaf-Biografie „Hymne an das Leben“. Als Musikwisse­nschafter sieht er in der „unvergessl­ichen, optimistis­chen“und „ausnahmswe­ise ausschließ­lich in Dur“gehaltenen Melodie den wichtigste­n Faktor der Erfolgsges­chichte. Erstmals habe Piaf es geschafft, „von ihrem Pigalle-, Straßenkin­dund Gören-Image abzurücken“.

Zudem sei diese Melodie auch nicht mehr im Tonfall des französisc­hen Chansons gefangen gewesen, analysiert Rosteck. Sie blieb für Lesarten zwischen Schlager und Jazz offen und konnte sich so auf allen Wegen ins kollektive popkulture­lle Gedächtnis einbrennen.

Das gilt bis heute. Wer nach dem größten gemeinsame­n Nenner von Julio Iglesias und Grace Jones sucht, von Peter Kraus und Iggy Pop oder Louis Armstrong und Lady Gaga, wird bei „La vie en rose“fündig. Sie alle haben der immensen Zahl von Coverversi­onen ihre eigene hinzugefüg­t. Rund um den 100. Geburtstag Piafs kommen laufend neue dazu. Eine der jüngsten hat GrammyAnwä­rterin Rhiannon Giddens nach den Anschlägen vom 13. November veröffentl­icht. „Das ist für Paris, für Beirut, für Kenia“, schreibt sie auf ihrer Website, „wir dürfen nicht aufhören, nach einer rosigeren Welt Ausschau zu halten.“

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BILD: SN/APA/AFP/INTERCONTI­NENTALE/STRINGER Aussichten auf den Weltruhm: Edith Piaf in New York, 1950.

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