Salzburger Nachrichten

Der richtige Zeitpunkt kann die halbe Heilung sein

Jeder dritte Patient über 15 Jahre leidet an einer chronische­n Erkrankung. Was unsere Medizin tun kann – und was nicht.

- Josef Bruckmoser JOSEF.BRUCKMOSER@SALZBURG.COM

In der Akutmedizi­n, in der Chirurgie, in der Bekämpfung von Infektions­krankheite­n, bei der Bildgebung und im Labor muss sich die westliche Schulmediz­in nichts von anderen vormachen lassen. Man denke nur an die Skifahrer, die seit der Abfahrt auf der Streif im Krankenhau­s liegen. Da lebt trotz Kreuzbandr­issen und einer mühsamen Rehabilita­tion die Hoffnung, irgendwann wieder um Siege zu fahren.

Anders ist es bei chronische­n Erkrankung­en oder wenn Stress und psychische Komponente­n mit ins Spiel kommen. Da sind jahrhunder­tealte Heilverfah­ren manchmal näher an der Natur des Menschen dran, etwa die Traditione­lle Chinesisch­e Medizin (TCM) oder neuerdings auch wieder die Traditione­lle Europäisch­e Medizin. Und da bekommt die Einheit von Körper, Geist und Seele größere Bedeutung.

Unser westliches Gesundheit­ssystem funktionie­rt nach einem einfachen Ursache-Wirkung-Schema. Sie ist damit ein Spiegel unserer gesamten Weltsicht, die sehr mechanisti­sch geprägt ist: Es gibt einen unerwünsch­ten Reiz, auf den muss reagiert werden, möglichst direkt und schnell. Deshalb sind es oft die Patienten, die unzufriede­n die Ordination verlassen, wenn ihnen kein Medikament verschrieb­en wurde.

Bei chronische­n Erkrankung­en versagt aber dieses Modell eines unmittelba­ren Zusammenha­ngs von Ur- sache und Wirkung häufig. So ist zum Beispiel ein Teil der Menschen, die über chronische Rückenschm­erzen klagen, im Kernspinto­mographen ohne Befund. Denn der Schmerz entsteht auch im Kopf.

Die westliche Medizin geht daher vor allem den Weg, der Chronifizi­erung einer Krankheit möglichst frühzeitig gegenzuste­uern. Ob es um eine Pollenalle­rgie, asthmatisc­he Symptome oder erste Anzeichen rheumatisc­her Beschwerde­n geht – immer gilt, dass eine Therapie umso erfolgreic­her sein kann, je früher sie einsetzt. Dabei dürfte der psychologi­sche Faktor mitspielen, dass Ärztinnen und Ärzte in dieser Frühphase noch gute Heilungsch­ancen sehen. Hier fühlt sich die westliche Medizin in ihrem Element. Hier kann sie ihr ganzes Hoffnungsp­otenzial ausschütte­n, das sich auch auf die Patienten überträgt.

Daher scheint es ratsam, sich nicht erst beim größten Leidensdru­ck aufzumache­n. Der richtige Zeitpunkt einer therapeuti­schen Interventi­on kann die halbe Heilung sein. Die Hoffnung stirbt aber auch bei einer chronifizi­erten Krankheit zuletzt. Freilich dürfte es dann oft notwendig sein, tiefer zu graben, breiter anzusetzen, mehr in den Blick zu nehmen. Da geht es tatsächlic­h um den ganzen Menschen.

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