Der richtige Zeitpunkt kann die halbe Heilung sein
Jeder dritte Patient über 15 Jahre leidet an einer chronischen Erkrankung. Was unsere Medizin tun kann – und was nicht.
In der Akutmedizin, in der Chirurgie, in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, bei der Bildgebung und im Labor muss sich die westliche Schulmedizin nichts von anderen vormachen lassen. Man denke nur an die Skifahrer, die seit der Abfahrt auf der Streif im Krankenhaus liegen. Da lebt trotz Kreuzbandrissen und einer mühsamen Rehabilitation die Hoffnung, irgendwann wieder um Siege zu fahren.
Anders ist es bei chronischen Erkrankungen oder wenn Stress und psychische Komponenten mit ins Spiel kommen. Da sind jahrhundertealte Heilverfahren manchmal näher an der Natur des Menschen dran, etwa die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) oder neuerdings auch wieder die Traditionelle Europäische Medizin. Und da bekommt die Einheit von Körper, Geist und Seele größere Bedeutung.
Unser westliches Gesundheitssystem funktioniert nach einem einfachen Ursache-Wirkung-Schema. Sie ist damit ein Spiegel unserer gesamten Weltsicht, die sehr mechanistisch geprägt ist: Es gibt einen unerwünschten Reiz, auf den muss reagiert werden, möglichst direkt und schnell. Deshalb sind es oft die Patienten, die unzufrieden die Ordination verlassen, wenn ihnen kein Medikament verschrieben wurde.
Bei chronischen Erkrankungen versagt aber dieses Modell eines unmittelbaren Zusammenhangs von Ur- sache und Wirkung häufig. So ist zum Beispiel ein Teil der Menschen, die über chronische Rückenschmerzen klagen, im Kernspintomographen ohne Befund. Denn der Schmerz entsteht auch im Kopf.
Die westliche Medizin geht daher vor allem den Weg, der Chronifizierung einer Krankheit möglichst frühzeitig gegenzusteuern. Ob es um eine Pollenallergie, asthmatische Symptome oder erste Anzeichen rheumatischer Beschwerden geht – immer gilt, dass eine Therapie umso erfolgreicher sein kann, je früher sie einsetzt. Dabei dürfte der psychologische Faktor mitspielen, dass Ärztinnen und Ärzte in dieser Frühphase noch gute Heilungschancen sehen. Hier fühlt sich die westliche Medizin in ihrem Element. Hier kann sie ihr ganzes Hoffnungspotenzial ausschütten, das sich auch auf die Patienten überträgt.
Daher scheint es ratsam, sich nicht erst beim größten Leidensdruck aufzumachen. Der richtige Zeitpunkt einer therapeutischen Intervention kann die halbe Heilung sein. Die Hoffnung stirbt aber auch bei einer chronifizierten Krankheit zuletzt. Freilich dürfte es dann oft notwendig sein, tiefer zu graben, breiter anzusetzen, mehr in den Blick zu nehmen. Da geht es tatsächlich um den ganzen Menschen.