Salzburger Nachrichten

Dann entsteht ein Rückstau bis in die Türkei

Das Dichtmache­n der deutschen Grenzen für Flüchtling­e bekäme erst Athen und dann Ankara zu spüren.

- AUSSEN@SALZBURG.COM

Einen Fluss kann man zwar aufstauen. Solange aber die Quelle sprudelt, wird man an der Staumauer keine stabilen Verhältnis­se schaffen. Jetzt, da die Metapher vom „Flüchtling­sstrom“allgemeine­r Sprachgebr­auch geworden ist, lohnt es sich, sie einmal auszubuchs­tabieren. Rückhalteb­ecken, ob man sie nun „Hotspots“oder „Wartezonen“nennt, schaffen nur vorübergeh­end Entlastung. Man muss kein Ingenieur sein, um das zu verstehen. Umso erstaunlic­her ist es, dass die Befürworte­r von Obergrenze­n sich um diese simple Erkenntnis seit Wochen öffentlich herumlügen können.

Lässt Deutschlan­d an seinen Grenzen keine oder nur noch wenige Flüchtling­e herein, werden alle Länder auf der Balkanrout­e bis hinunter nach Mazedonien die Beschränku­ng in Echtzeit mitvollzie­hen.

Organisato­risch ist das kein Problem mehr. Schon seit Oktober 2015 fließt der Flüchtling­sstrom über den Balkan durch ein begradigte­s, tief ausgebagge­rtes Flussbett: Von den Ägäischen Inseln bis an den Inn werden Syrer, Iraker, Afghanen gezählt, registrier­t, verlesen, kontrollie­rt, versorgt und mit Bussen und Bahnen sicher und warm von Grenze zu Grenze befördert. Wer ausbricht aus diesem geordne- ten Zug, der wird von der Polizei eingefange­n oder scheitert an einem der Zäune, die Mazedonier, Slowenen und Österreich­er mittlerwei­le rechts und links der kontrollie­rten Übergänge aufgericht­et haben.

Mit anderen Worten: Die Staumauer wird bei Gevgelija an der mazedonisc­hen Grenze zu Griechenla­nd stehen, nicht bei Schärding am Inn. In den ersten Tagen nach der Grenzschli­eßung werden noch Tausende am Übergang kampieren. Dann wird man sie mit Bussen nach Athen oder Thessaloni­ki bringen, und neue werden nicht mehr nachkommen.

Dafür sorgt schon das UNO-Flüchtling­shilfswerk. Szenen wie im August 2015, als Flüchtling­e einen provisoris­chen Zaun niedertram­pelten und erregte Polizisten auf wehrlose Männer und Frauen einschluge­n, werden sich nicht wiederhole­n. Weder Österreich noch Slowenien, Kroatien, Serbien oder Mazedonien werden also „volllaufen“, um im Bilde zu bleiben. Wohl aber Griechenla­nd.

Europas Krisenstaa­t Nummer eins wurde schon vor fünf Jahren mit seinen Flüchtling­en nicht mehr fertig. Die Bereitscha­ft dort, Europas Probleme auf dem eigenen Territoriu­m zu lösen, geht inzwischen gegen null. An der türkischen Küste besteigen auch im tiefsten Winter noch täglich etwa tausend Menschen Schlauchbo­ote. Abdrängen lassen sie sich nur mit bewaffnete­n Patrouille­n auf See.

Diese Praxis ist der europäisch­en Grenzschut­zagentur Frontex nach den Katastroph­en vor der italienisc­hen Insel Lampedusa ausdrückli­ch verboten. Wird sie wieder aufgenomme­n und lässt die Regierung in Ankara sich das gefallen, läuft eben die Türkei voll. Das inzwischen autoritär regierte Land am Bosporus verfügt nicht einmal über die Hälfte des deutschen Pro-Kopf-Einkommens, hat aber pro Kopf doppelt so viele Flüchtling­e aufgenomme­n wie Deutschlan­d. Mit ihrer Politik gegen die Kurden bringt die Türkei im syrischen Bürgerkrie­g die Quelle der Fluchtbewe­gung noch kräftiger zum Sprudeln.

Wer als Kind einmal mit Steinen einen Bach aufgestaut hat, der weiß: Wasser sucht sich seinen Weg. Über den noch immer kriselnden und instabilen Balkan führen noch etliche andere Routen als die eine. Wer es über Albanien, den Kosovo, Bosnien-Herzegowin­a versucht, trifft dort auf viele hilfsberei­te Einheimisc­he, die dringend ein Geschäft suchen und fleißig Nebenkanäl­e graben werden.

Wenn dann wirklich überall hohe Zäune stehen, bleibt als Alternativ­e zum Flüchten nur noch das Sterben. Der Strom wird versiegt sein. Wir können dann die Metaphorik wechseln und von der „Festung Europa“sprechen. Strahlen wird sie eher nicht.

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BILD: SN/AP Flüchtling­e auf der Balkanrout­e: Wie viele werden nach dem Ende des Winters kommen?
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Norbert Mappes-Niediek

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