Salzburger Nachrichten

Die verlorene Ehre der Familie Sürücü

Sie trug kein Kopftuch und ging auf Partys – weil Hatun Sürücü sich nicht den Vorstellun­gen ihrer Familie anpasste, wurde sie erschossen.

- SN, n-ost

Sie war gerade erst 15 Jahre alt, als ihre Familie sie in der Türkei zur Heirat mit ihrem Cousin zwang. Wenig später wurde die junge Deutsch-Türkin Hatun Sürücü schwanger und hielt es nicht mehr aus. Sie ging zurück nach Berlin und änderte ihr Leben: Ihren kleinen Sohn zog sie allein groß, sie ging gern auf Partys, hatte deutsche Freunde und machte eine Ausbildung zur Elektroins­tallateuri­n.

Irgendwann legte sie auch das Kopftuch ab. Doch der Wandel zum westlichen Lebensstil passte der aus Ostanatoli­en stammenden Familie nicht. Vor knapp elf Jahren wurde die 23-jährige Hatun Sürücü bei einer Bushaltest­elle in Berlin von ihrem jüngsten Bruder erschossen. Der Mordfall erschütter­te Deutschlan­d. Und er ist noch nicht zu den Akten gelegt. Fast elf Jahre später kommen jetzt zwei mutmaßlich­e Anstifter in Istanbul vor Gericht. Der Prozess beginnt heute, Dienstag.

Der damals 18-jährige Ayhan Sürücü, der jüngste Bruder des Opfers, gestand den „Ehrenmord“: Er habe seine Schwester erschossen, weil sie sich „wie eine Deutsche benommen“und damit die Ehre der kurdischen Familie in den Schmutz gezogen habe. Der Fall löste seinerzeit in Deutschlan­d eine hitzige Debatte über Zwangsehen, Integratio­n und Parallelge­sellschaft­en aus.

Ayhan Sürücü sagte vor Gericht aus, er habe seine Schwester am Tatabend in ihrer Wohnung aufgesucht und sie wegen ihres Lebenswand­els zur Rede gestellt. Dann sei es zu einem Streit gekommen. Ayhan folgte seiner Schwester zu der Bushaltest­elle. „Bereust du deine Sünden?“, soll er Hatun gefragt und sie dann drei Mal in den Kopf geschossen haben. Ayhan wurde nach dem Jugendstra­frecht zu neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Im Juli 2014 wurde er entlassen und sofort in die Türkei abgeschobe­n, weil er „keine glaubhafte Reue gezeigt“habe.

Schon bei der Verurteilu­ng von Ayhan Sürücü hieß es in den Medien, der Prozess lasse viele Fragen offen. Beobachter gingen bereits seinerzeit davon aus, dass die ganze Familie in die Planung der Tat verwickelt war und der jüngste Sohn den Mord verüben sollte, weil er mit der geringsten Strafe davonkomme­n würde – ein in der Türkei bei sogenannte­n Ehrenmorde­n durchaus übliches Verfahren. Ayhans ältere Brüder Mutlu und Alpaslan, zur Tatzeit 24 und 25 Jahre alt, wurden zwar ebenfalls angeklagt, aus Mangel an Beweisen aber freigespro­chen.

Der Bundesgeri­chtshof hob die Freisprüch­e zwar 2007 auf. Da hatten sich die beiden aber bereits in die Türkei abgesetzt. Ein deutsches Auslieferu­ngsgesuch lehnten die türkischen Behörden ab. Die Istanbuler Justiz leitete aber 2013 ein eigenes Strafverfa­hren gegen die beiden Männer ein und erhob im vergangene­n Jahr Anklage wegen Mordes. Sie werden verdächtig­t, ihren jüngeren Bruder mit dem Mord beauftragt und ihm die Tatwaffe besorgt zu haben. Am heutigen Dienstag beginnt der Prozess vor dem 10. Schwurgeri­cht im asiatische­n Teil Istanbuls.

Die beiden Angeklagte­n wiesen die Vorwürfe in bisherigen Aussagen zurück, wie aus Gerichtsak­ten hervorgeht. Demnach streiten sie ab, ihren jüngsten Bruder zum Mord an Hatun angestifte­t oder ermutigt zu haben.

Die Version der Brüder steht im Widerspruc­h zu der Aussage der damaligen Freundin des jüngsten Bruders Ayhan. Sie war schon in dem Berliner Prozess als glaubwürdi­g eingestuft und mit ihrer Mutter ins Zeugenschu­tzprogramm aufgenomme­n worden. Ihr ehemaliger Freund soll ihr nach der Tat erzählt haben, dass er die Waffe von seinem Bruder Mutlu bekommen habe. Der andere, Alpaslan, soll laut Anklage dem Mörder am Tatort „geistigen Beistand“geleistet haben. „Es muss angenommen werden, dass, wenn auch kein Indiz allein ausreicht, um die Schuld der Verdächtig­en zu beweisen, dennoch die Gesamtheit der Indizien den nötigen Beweis liefern kann“, heißt es in der Anklagesch­rift beim Istanbuler Strafgeric­ht.

Skandal am Rand: Der in die Türkei abgeschobe­ne Mörder Ayhan betreibt einen Köfte-Imbiss in Istanbul, machte dort aber parallel Karriere bei einer Sicherheit­sfirma – und tat als Wachmann ausgerechn­et in der Sommerresi­denz des deutschen Botschafte­rs im Istanbuler Nobelvoror­t Tarabya Dienst. Dort bewachte der 28-Jährige, der gegenüber Reportern aus seinem „Hass auf Deutschlan­d“keinen Hehl macht, im Auftrag der Sicherheit­sfirma ATK an mindestens zwei Tagen das Gelände. Erst als seine Identität aufflog, wurde er eilig abgelöst.

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BILD: SN/DPA/DPAWEB Hatun Sürücü hatte ihre eigene Vorstellun­g vom Leben.

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