Utopie eines besseren Lebens
Wie lebt es sich auf einer Insel, wo Gemeinwohl über allem Geld steht? Vor 500 Jahren formulierte Thomas Morus eine Gesellschaftskritik, die bis in die moderne Science-Fiction nachwirkt.
Irgendwo im Ozean stößt ein Reisender auf eine alternative Gesellschaft. Sein Bericht über die Sitten der Fremden stellt die Lebenswelt Westeuropas infrage, auch wenn es sich „nur“um eine Fiktion handelt. So ging es den Lesern, die vor 500 Jahren das Pamphlet des englischen Humanisten Thomas Morus (1478–1535) über die Insel Utopia in Händen hielten, das 1516 auf Latein erschien.
Trotz der Gestaltung mit einer Karte des Landes und einem Alphabet der einheimischen Sprache handelte es sich bei den ersten Lesern nur um eine kleine Elite. „Das Buch wurde von Gelehrten geschätzt, war aber einem Großteil der Bevölkerung nicht zugänglich“, erklärt der Stuttgarter Literaturwissenschafter Hans Ulrich Seeber.
Der Name der Insel ist ein Wortspiel aus dem griechischen „Outopia“(„Nichtort“) und „Eutopia“(„glücklicher Ort“), die in der englischen Aussprache gleich klingen. Ob „Utopia“tatsächlich eine mögliche oder bessere Welt darstellen sollte, war nie ganz klar. Das einfache Leben der Bewohner basiert auf gemeinschaftlichen Prinzipien. Erwachsene arbeiten für das Gemeinwohl, man lebt in größeren Gemeinschaften, teilt Mahlzeiten miteinander. Reichtümer gibt es nicht.
„Utopia“ist eine Gesellschaftskritik Englands im 16. Jahrhundert. In der Rahmenhandlung des ersten Buchs stellt der Autor die Missstände der Inselmonarchie dar. So würden etwa Adlige und Geistliche im Überfluss leben, aber Diebe, die aus Not handelten, mit dem Tode bestraft. Der im zweiten Buch beschriebene Staat soll ein republikanisches und egalitäres Gegenmodell dazu bieten.
„Das Werk prangert die Kriegspolitik der europäischen Fürsten und die Unterschiede der Klassen an“, erklärt Seeber. Dabei habe Mo- rus erstmals einen Zusammenhang zwischen Besitzverhältnissen und Kriminalität hergestellt. Das Werk habe alle von den englischen Levellers im 17. Jahrhundert bis zu Friedrich Engels beeinflusst. Der Sozialdemokrat Karl Kautsky beschäftigte sich damit und auch der englische Sozialist William Morris in „Neues aus Nirgendland“(1890).
„Die ,Utopia‘ wurde im 19. Jahrhundert zum Kultbuch der Sozialisten, weil darin der Kommunismus mit seinem Gemeinschaftseigentum zum ersten Mal propagiert wurde“, sagt Seeber, auch wenn Morus seine Idee wahrscheinlich vom klösterlichen Leben abgeleitet habe. Zwar hatten schon antike Autoren wie Platon ähnliche Werke geschrieben, doch Morus’ Utopie gab der Literaturgattung ihren Namen. Sie hatte auch Einfluss auf spätere Denker und Autoren wie Edward Bellamy mit „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“(1888) und H. G. Wells mit seiner „Zeitmaschine“(1895).
Im 19. Jahrhundert waren Utopien noch Pläne für eine alternative Gesellschaftsordnung. Im 20. Jahrhundert kehrten sie sich Experten zufolge in Dystopien um, wie Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“(1932), George Orwells „1984“(1949), aber auch Margaret Atwoods feministischer „Report der Magd“(1985). Die engen Strukturen der Utopie seien für die liberale Gesellschaft untragbar geworden, nicht zuletzt, „weil der Aufstieg totalitärer Systeme wie in der Sowjetunion und in Deutschland die Gefahren solcher Gesellschaften zeigte“, erklärt Seeber.
Morus wurde schließlich hingerichtet, weil er sich aus Gewissensgründen seinem König Heinrich VIII. widersetzte, der sich in der Reformation zum Oberhaupt der Kirche von England machte. Auch „Utopia“zeuge von starker politischer Überzeugung, einer rationalen Analyse und klaren Zielvorstellungen. „Es geht um eine größere gesellschaftliche Verantwortung,“sagt der Kulturwissenschafter Uwe Baumann.
Für die anhaltende Popularität der „Utopia“sei indes die Person Thomas Morus maßgeblich verantwortlich, ergänzt Baumann. Morus habe „als Heiliger der katholischen Kirche ein weltliches Werk geschrieben, in dem der Mensch selbst für die Welt verantwortlich ist – mit seiner Vernunft, seinen moralischen Prinzipien und seinen Kardinaltugenden“. Das inspiriere bis heute viele Menschen.
Entsprechend ausführlich und umfangreich wird das 500Jahr-Jubiläum von „Utopia“heuer in London gefeiert: mit Filmen, Diskussionen, Vorträgen und Ausstellungen.
Das Jahresprogramm thematisiert sowohl das Buch selbst als auch seinen Einfluss auf spätere Schriftsteller, Künstler und politische Bewegungen.