Billiges Öl: Fluch oder Segen?
Ölpreisschocks haben das Zeug, die Konjunktur aus der Bahn zu werfen.
„Wer hat Angst vor billigem Öl?“, titelte unlängst der „Economist“, Großbritanniens prestigeträchtiges Wirtschaftsjournal. Der Preis für den wohl wichtigsten Rohstoff fällt und fällt. Und es gibt namhafte Analysten, die glauben, dass wir dadurch vor einer neuerlichen Finanzkrise stehen. Dass der Ölpreis Unruhe auf den Märkten auslöst, ist nichts Neues. Dass sich aber die Industriestaaten vor billigem – oder besser: zu billigem Öl fürchten müssen, ist nicht gerade eine gängige These. Bisher hat man als Daumenregel angenommen, dass ein zehnprozentiger Verfall beim Ölpreis das Wachstum in den Importländern um 0,1 bis 0,5 Prozent erhöht. Der niedrige Ölpreis erfreut nicht nur Konsumenten, die weniger für Sprit und Heizung zahlen müssen, sondern auch große Teile der Wirtschaft, deren Energierechnung sinkt. Tatsache ist, dass die Ölimportländer weniger an Energiekosten ans Ausland überweisen müssen. So hat sich die Ölrechnung der Eurozone seit Mitte 2014 um zwei Prozent des BIP verringert. Warum also die Angst? Ist der Kurssturz an den Börsen, den wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, tatsächlich auf den rapiden Verfall des Ölpreises zurückzuführen? Und erhöht der niedrige Ölpreis die Gefahr einer Deflation, also von dauerhaft fallenden Preisen, die den zögerlichen Aufschwung in Europa erst recht wieder zum Erliegen bringt? Was sind die Gründe für den Ölpreisverfall: Wir stehen derzeit vor der Situation, dass das Ölangebot viel höher ist als die Nachfrage. Das hat einmal mit den geringeren Wachstumsraten in China zu tun, zum anderen mit dem Kampf der Ölproduzenten um Marktanteile. Denn ist der Preis niedrig, werden Anbieter mit hohen Kosten für die Förderung von Öl aus dem Markt gedrängt. So sind die Kosten für die Schieferölproduktion (USA, Kanada) um ein Vielfaches höher als die Förderkosten in den Golfstaaten. Das bedeutet aber, dass Investitionen, die in den vergangenen Jahren zum Beispiel in die Exploration von Schiefergasvorkommen in den USA oder die Tiefseebohrungen vor der Küste Brasiliens flossen, unrentabel geworden sind. Und bereits geplante Investitionen von 380 Mrd. US-Dollar wurden mittlerweile gestoppt. Damit kommen auch die Ölfeldausrüster unter Druck. Dazu kommt, dass die Wirtschaft in manchen Ölexportländern generell stark unter Druck geraten ist, sei das nun in Russland, Brasilien, Venezuela oder Nigeria, um nur einige zu nennen. Dabei handelt es sich um Länder, die bei internationalen Investoren tief in der Kreide stehen. Und so zieht der rapide Verfall des Ölpreises die Börsen nach unten und führt, wie in den vergangenen Wochen, zu einem Kursverfall. Ob eine Stabilisierung eintritt oder der Kursverfall weitergeht, wird auch davon abhängen, ob sich mit dem Wiedereintritt des Iran auf den internationalen Ölmärkten der Preiskampf weiter verschärft. Last, but not least drückt ein niedriger Ölpreis die Inflationsrate: Normalerweise ist das zum Vorteil der Ölimportländer. Doch liegt die Inflation, wie derzeit in der Eurozone, nur knapp über null, wird der Vorteil zum Nachteil, weil damit die Gefahr steigt, in die Deflationsspirale zu geraten. Und das wäre das Ende der ohnehin schwachen Konjunkturerholung. Ölpreisschocks – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung – haben die Kraft, Monster freizusetzen, die man nur schwer bändigen kann.