Das Volk ist bitter enttäuscht
Vor rund einem Jahr legte Alexis Tsipras seinen Amtseid als Ministerpräsident Griechenlands ab. Aus seinen Versprechungen ist nichts geworden. Die Stimmung ist schlechter denn je.
Als Alexis Tsipras unlängst das Podium in der Sportarena von Faliron im Süden Athens betrat, reckte er den linken Arm in die Höhe und ballte die Faust – wie damals, vor einem Jahr, als er seine erste Wahl in Griechenland gewann. „Dies ist ein historischer Tag, ein Festtag!“, rief er den Tausenden zu. Beifall brandete auf, Sprechchöre wurden angestimmt. Viele schwenkten Fahnen. „Gemeinsam gehen wir auf eine Reise der Träume und Hoffnungen“, rief Tsipras.
Vergangenen Samstag sah der Regierungschef blass und müde aus. Beim Besuch in Perama, einem Arbeitervorort der Hafenstadt Piräus, brachte er zwar gute Nachrichten mit: In dem von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Stadtteil soll endlich in die Infrastruktur investiert werden. Für ihn selbst jedoch dürfte das die einzige gute Nachricht des Tages gewesen sein.
Überall im Land sind die Menschen in Aufruhr. Bis zu 25.000 Traktoren blockieren seit Tagen wichtige Verkehrsadern, darunter Zufahrten zu den Flughäfen von Athen und Thessaloniki. Die Bürger wehren sich gegen die Pläne der Regierung, die Agrarwirtschaft höher zu besteuern und das Pensionssystem zu reformieren. Die geplante Pensionsreform sieht im Schnitt Kürzungen von 15 Prozent für alle künftigen Pensionisten vor. Zudem sollen die Pensionsbeiträge für Landwirte und Freischaffende erheblich angehoben werden.
Schon längst haben sich Rechtsanwälte, Ärzte, Ingenieure und Journalisten den Protesten angeschlossen und legen regelmäßig die Arbeit nieder. Dabei soll der eigentliche Streiktag gegen das aktuelle Reformpaket, zu dem die großen Gewerkschaften des Landes aufgerufen haben, erst kommenden Donnerstag stattfinden. Dann werden auch die Staatsdiener niederlegen.
Ioanna Pavlopoulou hatte vor einem Jahr Tsipras noch zugejubelt: „Tsipras war meine Hoffnung“, sagt Pavlopoulou. Die 44-Jährige teilt sich mit ihrer Mutter eine kleine Zweizimmerwohnung, seit sie 2012 ihren Job verlor. Die beiden Frauen leben von der Witwenpension der Mutter. Tsipras versprach, 300.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Pensionskürzungen der Vorgängerregierungen rückgängig zu machen. Aber Ioanna Pavlopoulou hat immer noch keine Arbeit, und ihrer
die
Arbeit Mutter droht jetzt ein weiterer Einschnitt bei der Pension. „Ich bin bitter enttäuscht“, sagt die Frau.
„Die Hoffnung kommt“– mit diesem Slogan war Tsipras vor einem Jahr angetreten. Die Kreditverträge mit den Gläubigern wollte er „zerreißen“, den Sparkurs sofort beenden und den Schuldendienst einstellen, Pensionen und Mindestlöhne erhöhen. Überschuldeten Familien werde er ihre Kredite erlassen, den Steuerfreibetrag auf 12.000 Euro heraufsetzen und die unpopuläre Immobiliensteuer abschaffen, gelobte Tsipras. Über 10.000 Staats- bedienstete, die in den Vorjahren auf Druck der Troika entlassen wurden, versprach Tsipras wieder einzustellen.
Ein Jahr nach seinem Amtsantritt ist davon so gut wie nichts umgesetzt. Ein Gesetz zur Linderung der humanitären Krise hat die Regierung zwar durchs Parlament gebracht – es sieht kostenlosen Strom, Essensmarken und Mietzuschüsse für die Ärmsten der Armen vor. Doch die meisten anderen Wahlversprechen sind zurückgestellt.
Tsipras steht unter Druck: Nur wenn die jetzt laufende erste Überprüfung des Anpassungsprogramms durch die Vertreter der Geldgeber schnell abgeschlossen wird, kann Athen auf weitere Kreditraten und die ersehnten Schuldenerleichterungen hoffen. Immerhin scheint Tsipras etwas gelernt zu haben: Die Prüfung müsse „so schnell wie möglich“abgeschlossen werden, der Zeitfaktor sei „von strategischer Bedeutung“, sagte Tsipras kürzlich beim Weltwirtschaftsforum in Davos und mahnte: „Dies ist wahrscheinlich die letzte Chance für Griechenland.“
Die schwersten Auseinandersetzungen könnten Tsipras noch bevorstehen. Die Pensionsreform, die er auf Druck der Geldgeber umsetzen muss, stößt auf breiten Widerstand in der Bevölkerung und auf Einspruch in der eigenen Partei.
Vor drei Jahren unterstützte Tsipras die Landwirte bei ihren Protesten gegen die damalige Regierung, schwang sich auf die Traktoren und hielt feurige Reden. Jetzt steht er auf der anderen Seite – nicht nur für die Bauern, sondern für viele Griechen, die ihn gewählt haben. Wie schlecht die Stimmung im Land ist, zeigt eine Umfrage: Danach sind 85 Prozent der Befragten nicht zufrieden mit der Arbeit der Regierung. Sogar von den SyrizaWählern äußern sich 71,5 Prozent unzufrieden.