Kratzen an der Rinde der Geschichte
Wie Geschichte ins Buch kommt, ist das zentrale Thema bei den heurigen Literaturtagen in Rauris.
„Geschichte.Erzählen“lautet der Schwerpunkt der 46. Ausgabe der Rauriser Literaturtage. Wie kommt Geschichte, Zeitgeschichte hauptsächlich, ins Buch, und wie verhält sich die Literatur, die sich dem Thema subjektiv annähern darf, zur Geschichtswissenschaft, die für sich in Anspruch nimmt, aus dem Blickwinkel des distanzierten Sammlers und überlegten Auslegers von Fakten zu argumentieren?
Dazu passt, dass mit Hanna Sukare eine Autorin mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wird, die mit ihrem Roman „Staubzunge“(Otto Müller Verlag) ein Debüt vorlegt, in dem der Zerfall einer Familie als Folge der Brüche des 20. Jahrhunderts dargestellt wird. Zwei Geschwister wachsen in einem religiös geprägten Haushalt auf, bekommen früh Unterweisungen in Sachen Ordnung und Unterordnung, Pflicht und Gehorsam. Als sie später nach den Gründen der Lieblosigkeit und Strenge zu fragen beginnen, wird es brisant. Die Wunden, die der Nationalsozialismus der deutschen Gesellschaft geschlagen hat, wirken bis in die unmittelbare Gegenwart im privaten Bereich nach.
Anders als die Bücher der 1970erJahre, in denen junge Autorinnen und Autoren mit der Nazi-Generation abrechneten, indem sie kräftig zuschlugen, weil sie sich im Recht sahen, geht Hanna Sukare vorsichtiger vor. Sie erzählt aus verschiedenen Wahrnehmungsweisen, was den Roman vielschichtig macht und ihm die Eindeutigkeit nimmt. Dazu bedient sie sich einer Sprache, deren Heftigkeit man ansieht, dass Erinnern und Schreiben schmerzhafte Prozesse sind.
Der heurige Rauriser Förderungspreis geht an Carlos Peter Reinelt, der sich des Themas Flucht nach Europa annimmt.
Ein Abend bei den heuer 46. Rauriser Literaturtagen wird drei Oberösterreichern gewidmet sein, die in Salzburg studiert haben. Elisabeth Reichart erzählt in „Die Voest-Kinder“von einer Jugend in einer Siedlung, über deren Nazigeschichte nur gemunkelt wird. Ludwig Laher hat sich verdient gemacht als einer, der Tätern des Dritten Reichs ein Gesicht gibt. Mit den Diktaturen Lateinamerikas hat sich Erich Hackl intensiv beschäftigt.
Das Unglück hat – so wird sich von 30. März bis 3. April in Rauris zeigen – zahlreiche Ausformungen. Joseph Haslinger findet es in der Tschechoslowakei, wo ein Eishockeyspieler unter fadenscheinigen Gründen in ein Arbeitslager gesteckt wird („Jáchymov“), Alain Claude Sulzer im Dritten Reich, wenn er das Schicksal eines jüdischen Schauspielers nachzeichnet („Postskriptum“). Für Breda Smolnikar liegt das Unglück in Slowenien und nimmt dafür ein Jahrhundert voller Schrecken und Leiden in den Blick („Wenn die Birken Blätter treiben“).
Um dem Generalthema der Literaturtage ein theoretisches Fundament zu verschaffen, wird in Rauris ein Gespräch zwischen Historiker Robert Hoffmann und Germanisten Karl Müller stattfinden, damit geklärt wird, wie sich über Geschichte schreiben lässt.