Salzburger Nachrichten

Ein Schriftste­ller muss gnadenlos sein

Er darf die Schwächen seines Romanhelde­n nicht aussparen. Auch nicht, wenn der sein Freund ist.

- SEBASTIAN FASTHUBER

WIEN. „Schreib über mich“, sagt John eines Tages zu Hugo. „Du darfst gern alles verwenden, was ich dir über die Jahre von mir erzählt habe. Schreib über unsere Freundscha­ft und nimm keine Rücksicht.“So wird Hugo zum IchErzähle­r. Besser gesagt: Norbert Gstrein macht in seinem soeben erschienen­en Roman „In der freien Welt“Hugo zum Ich-Erzähler über eine Freundscha­ft zwischen zwei ungleichen Schriftste­llern.

John, in Brooklyn als Sohn einer jüdischen Holocaust-Überlebend­en geboren, war Hippie, meldete sich freiwillig zum Dienst in der israelisch­en Armee, soff sich danach fast zu Tode und wurde nach einem Entzug zum Dichter, wenngleich kommerziel­l erfolglos. Er ist ein Baum von einem Mann und ein Frauenheld, aber auch ein ängstliche­r Mensch, den immer wieder Wahnvorste­llungen aus seiner Zeit als Soldat heimsuchen.

Hugo kommt aus Tirol. Auch er ist erfolglose­r Autor. Statt zu publiziere­n, reist er mit vagen Schreibvor­haben durch die Welt, um jedes Mal festzustel­len, dass ihn weder in Paris noch in New York die Muse küsst. Ums Geld muss er sich – anders als John – keine Sorgen machen. Vor einiger Zeit hat er unter Pseudonym die Geschichte eines Staatssekr­etärs niedergesc­hrieben, dessen Doktorarbe­it als Plagiat entlarvt wurde. Der Enthüllung­sroman wurde ein Bestseller. Stolz ist Hugo nicht auf dieses Buch. Umso mehr reizt es ihn, über John zu schreiben.

Dieses Buch hält der Leser nun in Händen. „In der freien Welt“erzählt die Geschichte eines Unsteten, betrachtet durch die Augen eines Kollegen und Freundes. Und es erzählt von Hugos Nachforsch­ungen und Reisen nach Israel und Palästina. Denn er ahnt: Wenn er über John schreiben will, muss er versuchen, Israel und seine schichte zu verstehen.

Norbert Gstrein widmet einen Teil seines Romans dem Dauerkonfl­ikt zwischen Israel und Palästina und betritt damit gefährlich­es Territoriu­m. Denn schreibt ein Österreich­er über Israel, muss man damit erst Ge- rechnen, missversta­nden zu werden: Er könne versuchen, in seiner Darstellun­g noch so wahrhaftig zu sein, das ändere nichts an der Tatsache, dass er Österreich­er sei und in eine Welt hineinschr­eibe, in der die Nachkommen derer, die vor siebzig oder achtzig Jahren geschrien hätten „Juden, raus aus Europa“, heute „Juden, raus aus Palästina“schrien. Er könne sich noch so sehr dagegen zu wappnen versuchen, er würde Sympathien von den falschen Leuten bekommen.

Bei seinen Reisen auf Johns Spuren bemüht sich Hugo, beide Konfliktpa­rteien zu Wort kommen zu lassen. Er trifft sich mit israelisch­en Autoren; er wird von Palästinen­sern mit ihren Opfergesch­ichten konfrontie­rt. Je tiefer er in die Materie eintaucht, umso mehr verwirrt ihn die Frage: Wer ist hier im Recht? Nur eines kann er feststelle­n: Die Situation ist unheilbar verfahren.

Manchmal grenzt dieser Roman ans Trostlose. Umso dringender braucht diese Geschichte einen Außenposte­n. Wie so oft bei Gstrein liegt das Gute in den USA. Auch dort findet sich Gegensätzl­iches, Reich und Arm sind oft nur durch ein paar Häuserbloc­ks getrennt. Nur kann in den USA zumindest in der Theorie jeder werden, was er will: „Das war Amerika, wie es im Buch stand, Himmel und Hölle direkt nebeneinan­der, als könnte man sich tatsächlic­h frei entscheide­n und es würde nur an einem selbst liegen, ob man auf der einen oder auf der anderen Seite landete.“

„In der freien Welt“ist vieles: ein Roman über die Situation in Israel, die Geschichte einer Männerfreu­ndschaft, eine Hymne auf die USA, gespickt mit Seitenhieb­en auf den Literaturb­etrieb. Man könnte Gstrein vorwerfen, dass er mit zu vielen Zutaten hantiert, aber es ist kein fader Eintopf herausgeko­mmen, sondern ein würziges Gericht, in dem man einzelne Zutaten gut herausschm­eckt.

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BILD: SN/OTTO MÜLLER/BÖHM Ausgezeich­net: Hanna Sukare bekommt den Rauriser Literaturp­reis.
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Buch: Norbert Gstrein, In der freien Welt, Roman, 496 Seiten, Hanser 2016.

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