Ein Schriftsteller muss gnadenlos sein
Er darf die Schwächen seines Romanhelden nicht aussparen. Auch nicht, wenn der sein Freund ist.
WIEN. „Schreib über mich“, sagt John eines Tages zu Hugo. „Du darfst gern alles verwenden, was ich dir über die Jahre von mir erzählt habe. Schreib über unsere Freundschaft und nimm keine Rücksicht.“So wird Hugo zum IchErzähler. Besser gesagt: Norbert Gstrein macht in seinem soeben erschienenen Roman „In der freien Welt“Hugo zum Ich-Erzähler über eine Freundschaft zwischen zwei ungleichen Schriftstellern.
John, in Brooklyn als Sohn einer jüdischen Holocaust-Überlebenden geboren, war Hippie, meldete sich freiwillig zum Dienst in der israelischen Armee, soff sich danach fast zu Tode und wurde nach einem Entzug zum Dichter, wenngleich kommerziell erfolglos. Er ist ein Baum von einem Mann und ein Frauenheld, aber auch ein ängstlicher Mensch, den immer wieder Wahnvorstellungen aus seiner Zeit als Soldat heimsuchen.
Hugo kommt aus Tirol. Auch er ist erfolgloser Autor. Statt zu publizieren, reist er mit vagen Schreibvorhaben durch die Welt, um jedes Mal festzustellen, dass ihn weder in Paris noch in New York die Muse küsst. Ums Geld muss er sich – anders als John – keine Sorgen machen. Vor einiger Zeit hat er unter Pseudonym die Geschichte eines Staatssekretärs niedergeschrieben, dessen Doktorarbeit als Plagiat entlarvt wurde. Der Enthüllungsroman wurde ein Bestseller. Stolz ist Hugo nicht auf dieses Buch. Umso mehr reizt es ihn, über John zu schreiben.
Dieses Buch hält der Leser nun in Händen. „In der freien Welt“erzählt die Geschichte eines Unsteten, betrachtet durch die Augen eines Kollegen und Freundes. Und es erzählt von Hugos Nachforschungen und Reisen nach Israel und Palästina. Denn er ahnt: Wenn er über John schreiben will, muss er versuchen, Israel und seine schichte zu verstehen.
Norbert Gstrein widmet einen Teil seines Romans dem Dauerkonflikt zwischen Israel und Palästina und betritt damit gefährliches Territorium. Denn schreibt ein Österreicher über Israel, muss man damit erst Ge- rechnen, missverstanden zu werden: Er könne versuchen, in seiner Darstellung noch so wahrhaftig zu sein, das ändere nichts an der Tatsache, dass er Österreicher sei und in eine Welt hineinschreibe, in der die Nachkommen derer, die vor siebzig oder achtzig Jahren geschrien hätten „Juden, raus aus Europa“, heute „Juden, raus aus Palästina“schrien. Er könne sich noch so sehr dagegen zu wappnen versuchen, er würde Sympathien von den falschen Leuten bekommen.
Bei seinen Reisen auf Johns Spuren bemüht sich Hugo, beide Konfliktparteien zu Wort kommen zu lassen. Er trifft sich mit israelischen Autoren; er wird von Palästinensern mit ihren Opfergeschichten konfrontiert. Je tiefer er in die Materie eintaucht, umso mehr verwirrt ihn die Frage: Wer ist hier im Recht? Nur eines kann er feststellen: Die Situation ist unheilbar verfahren.
Manchmal grenzt dieser Roman ans Trostlose. Umso dringender braucht diese Geschichte einen Außenposten. Wie so oft bei Gstrein liegt das Gute in den USA. Auch dort findet sich Gegensätzliches, Reich und Arm sind oft nur durch ein paar Häuserblocks getrennt. Nur kann in den USA zumindest in der Theorie jeder werden, was er will: „Das war Amerika, wie es im Buch stand, Himmel und Hölle direkt nebeneinander, als könnte man sich tatsächlich frei entscheiden und es würde nur an einem selbst liegen, ob man auf der einen oder auf der anderen Seite landete.“
„In der freien Welt“ist vieles: ein Roman über die Situation in Israel, die Geschichte einer Männerfreundschaft, eine Hymne auf die USA, gespickt mit Seitenhieben auf den Literaturbetrieb. Man könnte Gstrein vorwerfen, dass er mit zu vielen Zutaten hantiert, aber es ist kein fader Eintopf herausgekommen, sondern ein würziges Gericht, in dem man einzelne Zutaten gut herausschmeckt.