Friedrich Dürrenmatt, der Mann vor dem Karren
Erst beim Tod der Mutter, behaupten die Kinder, merken sie überhaupt, dass ein Vater da ist. Der Vater, das ist der Schriftsteller, Maler, Denker und selbstdefinierte Epikureer Friedrich Dürrenmatt. Die Mutter, das ist Lotti, die Geliebte, die andauernde Echokammer des Schriftstellers, das Gegenüber, ohne das kein Text zu Ende gedacht werden kann. „Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte“heißt der Dokumentarfilm, den die Schweizerin Sabine Gisiger gemacht hat, im Gespräch mit dem Sohn Peter, Priester wie schon Dürrenmatts Vater („eingeklemmt zwischen zwei Pfarrern“, sagte Dürrenmatt zu Lebzeiten), und im Gespräch mit der Tochter Ruth Dürrenmatt. Beide hatten sich übrigens vor Jahren noch geweigert, mit dem Biografen ihres Vaters zu sprechen. Vor Gisigers Kamera erinnern sie sich aber: Wie alles stillstehen musste, wenn der Vater Aufmerksamkeit brauchte, wie sich alles leise unterzuordnen hatte, wenn er schrieb.
„Ein Mann muss Ballast haben, einen Karren, den er zu ziehen hat, sonst kriegt er keinen Schwung“, notierte Dürrenmatt auf, und meinte damit die Familie. Das klingt ja eher nicht nach Liebe, und doch muss es wohl Liebe sein. Was genau aber die große Liebe in Dürrenmatts Le- ben ist, bleibt offen: die zu seiner ersten Frau, der Schauspielerin Lotti Geißler, oder doch die zum Theater, der „Synthese von Literatur und Malerei“. Oder zum maßlosen Genuss, Wein, Tabak, Fleisch, noch mehr Wein. Oder die Liebe zum zweiten Lotti, der Schauspielerin und Schriftstellerin Charlotte Kerr, die er ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet, und mit der er Filme umsetzt, wieder kreativ zusammenarbeitet.
Die Urnen beider Lottis sind heute im Dürrenmatt-Garten unter einem Baum begraben, gemeinsam mit ihm, und wissen das nicht voneinander. Hauptsache, der Dürrenmatt ist nicht allein, darüber lacht Tochter Ruth heute noch.
Umfangreiche Archivaufnahmen, Dürrenmatt im Atelier, immer wieder eingeordnet von den Kindern: Gisigers Film ist ein üppiger, witziger, weiser dokumentarischer Essay, der einen sich rückbesinnen lässt auf den großen Dramatiker und komplizierten Mann. Besseres ist einem Publikum nicht zu wünschen.
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