Römer, Skelette und viele Pendler
Da gibt es diese Geschichte über Kaiserin Sisi, die irgendwie typisch ist für St. Pölten. Im Bischöflichen Palais brachte man extra einen Trakt auf Hochglanz, die Stadt war bereit für den Empfang, alles wartete nur noch auf ihre Ankunft. Doch Sisi blieb im Zug sitzen und dampfte vorbei. Einfach so. Als gäbe es die Stadt nicht.
Zeitsprung ins Jahr 2016. St. Pölten ist seit mittlerweile drei Jahrzehnten Landeshauptstadt von Niederösterreich und Anita Schuster wuselt durch die Fußgängerzone. Kein Haus, keine Hofeinfahrt, kein Torbogen, keine Gedenktafel ist vor ihr sicher. Dass sie permanent Leute grüßt, die sie gar nicht kennt, fällt ihr kaum auf. „Das ist bei uns halt so“, lacht die quirlige Stadtführerin. Bei uns – erstmals erahnt man eine Art Wir-Gefühl in einer Stadt, die mit Selbstbewusstsein lange Zeit auf Kriegsfuß stand. Grau, verrußt, stinkig, langweilig. So eine Punzierung wird man so schnell nicht los. Tatsächlich brachte man St. Pölten eher mit Voith, der Glanzstoff und anderen Industriebetrieben in Verbindung, denn mit Jakob Prandtauer und all seiner Passion für den Barock.
Ein bisschen sind die St. Pöltner aber auch selbst schuld an der Misere. Vermarktungstechnisch ein richtiger Schuss ins Knie war zum Beispiel die Sache mit der Stadtmauer. Ja, St. Pölten hatte eine Stadtmauer! Und zwar bis zu dem Tag, als man sich dazu entschloss, sie möglichst günstig loszuwerden. Man verkaufte Baugründe entlang des potenziellen Touristenmagneten um Spottpreise – mit der Auflage an die Käufer, den jeweiligen Teil auf eigene Kosten abzureißen. Ergebnis: Stadtmauer – weg.
So dümpelte St. Pölten, durch Eingemeindungswellen in den 1970er-Jahren flächenmäßig größer als Linz und Salzburg, lange vor sich hin. Dann allerdings kam Landeshauptmann Siegfried Ludwig und sprach: „Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft.“Am 1. und 2. März 1986 konfrontierte man die Bevölkerung mit der „Haupt- stadtfrage“. Recht abgeschlagen auf den Plätzen landeten Krems, Baden, Tulln und Wiener Neustadt. Das tiefrote St. Pölten hingegen wurde zur Heimat der tiefschwarzen Landesregierung auserkoren. „Meine Studienkollegen in Wien haben mich damals ziemlich auf die Schaufel genommen, weil ich immer gemeint habe, dass wir Hauptstadt werden sollten.“Matthias Stadler, seit 2004 Bürgermeister, erinnert sich gern an die „Gründerzeit“. 1992 erfolgte der Spatenstich für das Regierungsviertel, das danach lange wie ein vom Rest der Stadt getrennter Fremdkörper am Ufer der Traisen parkte. Aber nicht nur das habe sich geändert, betont Stadler. „Zum Erstaunen vieler Beobachter komme ich mit Erwin Pröll sehr gut aus.“Als Stadler unlängst seinen 50. Geburtstag beging, wurde er vom Landeshauptmann sogar zum Essen eingeladen.
Anita Schuster zieht das Tempo an. Ihre Arme wirbeln erklärend durch die Luft. Rathausplatz, Dom, Kremser Gasse, Riemerplatz, Fuhrmannsgasse, Beisln, dazwischen ein „Hallo! Griaß di!“, Jazzlokale, Cafés, Kino, Kleinkunstbühnen, das Geburtshaus von Julius Raab, Biobäcker, das Kloster der Englischen Fräulein samt Felsengrotte, Stadtmuseum. All das findet man in der Fußgängerzone, in der man – gut aufpassen, Wien! – sogar mit dem Rad fahren darf. Was St. Pölten 53.500 Einwohner hat St. Pölten und ist mit einer Fläche von 109 Quadratkilometern größer als Linz (96) oder Salzburg (66). 120 nach Christus gründen die Römer Aelium Cetium als Verwaltungsstadt. 9688 Skelette aus mittelalterlicher Zeit wurden bis November 2015 am Domplatz freigelegt. Von 1911 bis 1976 kreuzte auf knapp zehn Kilometern Länge eine Straßenbahn durch die Stadt. 7700 Auspendlern stehen 36.000 Einpendler gegenüber. ebenfalls hat, oder zumindest behauptet zu haben, ist ein eigener Dialekt. So geht man hier etwa nicht auf einen Ball, sondern „auf’s Bäu“.
Nicht auf, sondern in die Arbeit geht man in St. Pölten recht zahlreich. Trotz des Niedergangs der Industrie gebe es heute in der Stadt mehr als doppelt so viele Arbeitsplätze als noch vor 30 Jahren. „Wir sind ja längst eine Dienstleistungsstadt“, sagt Bürgermeister Stadler. Dazu eine New Design University, eine Philosophisch-Theologische Hochschule und eine Fachhochschule mit neun Studienrichtungen, die allesamt reichlich junges Publikum in die Stadt spülen. Es hat gedauert, doch nun liegt endlich so etwas wie Aufbruch in der Luft, was sich im Übrigen auch in den steigenden Mietpreisen niederschlägt.
Bei einer Tasse Hibiskustee gönnt sich Anita Schuster eine Verschnaufpause. Wäre da noch die Sache mit dem Namenspatron. Der heilige Hippolyt hat nämlich St. Pölten nie gesehen, geschweige denn erlebt. Lediglich seine Gebeine hat man einst angeschleppt, um sie als Reliquien zu verehren. Den St. Pöltnern war das herzlich egal. Als Zeichen ihrer Zuneigung gravierten sie sich das krakelige Y einfach in ihre Toreinfahrten. Dabei wäre es mit dem heiligen Florian wesentlich einfacher, lebte doch dieser als pensionierter Feuerwehrhauptmann in Aelium Cetium – der heutigen Landeshauptstadt Niederösterreichs.
„St. Pölten ist ja längst zu einer Dienstleistungsstadt geworden.“