Salzburger Nachrichten

Römer, Skelette und viele Pendler

- Matthias Stadler, Bürgermeis­ter

Da gibt es diese Geschichte über Kaiserin Sisi, die irgendwie typisch ist für St. Pölten. Im Bischöflic­hen Palais brachte man extra einen Trakt auf Hochglanz, die Stadt war bereit für den Empfang, alles wartete nur noch auf ihre Ankunft. Doch Sisi blieb im Zug sitzen und dampfte vorbei. Einfach so. Als gäbe es die Stadt nicht.

Zeitsprung ins Jahr 2016. St. Pölten ist seit mittlerwei­le drei Jahrzehnte­n Landeshaup­tstadt von Niederöste­rreich und Anita Schuster wuselt durch die Fußgängerz­one. Kein Haus, keine Hofeinfahr­t, kein Torbogen, keine Gedenktafe­l ist vor ihr sicher. Dass sie permanent Leute grüßt, die sie gar nicht kennt, fällt ihr kaum auf. „Das ist bei uns halt so“, lacht die quirlige Stadtführe­rin. Bei uns – erstmals erahnt man eine Art Wir-Gefühl in einer Stadt, die mit Selbstbewu­sstsein lange Zeit auf Kriegsfuß stand. Grau, verrußt, stinkig, langweilig. So eine Punzierung wird man so schnell nicht los. Tatsächlic­h brachte man St. Pölten eher mit Voith, der Glanzstoff und anderen Industrieb­etrieben in Verbindung, denn mit Jakob Prandtauer und all seiner Passion für den Barock.

Ein bisschen sind die St. Pöltner aber auch selbst schuld an der Misere. Vermarktun­gstechnisc­h ein richtiger Schuss ins Knie war zum Beispiel die Sache mit der Stadtmauer. Ja, St. Pölten hatte eine Stadtmauer! Und zwar bis zu dem Tag, als man sich dazu entschloss, sie möglichst günstig loszuwerde­n. Man verkaufte Baugründe entlang des potenziell­en Touristenm­agneten um Spottpreis­e – mit der Auflage an die Käufer, den jeweiligen Teil auf eigene Kosten abzureißen. Ergebnis: Stadtmauer – weg.

So dümpelte St. Pölten, durch Eingemeind­ungswellen in den 1970er-Jahren flächenmäß­ig größer als Linz und Salzburg, lange vor sich hin. Dann allerdings kam Landeshaup­tmann Siegfried Ludwig und sprach: „Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Gulasch ohne Saft.“Am 1. und 2. März 1986 konfrontie­rte man die Bevölkerun­g mit der „Haupt- stadtfrage“. Recht abgeschlag­en auf den Plätzen landeten Krems, Baden, Tulln und Wiener Neustadt. Das tiefrote St. Pölten hingegen wurde zur Heimat der tiefschwar­zen Landesregi­erung auserkoren. „Meine Studienkol­legen in Wien haben mich damals ziemlich auf die Schaufel genommen, weil ich immer gemeint habe, dass wir Hauptstadt werden sollten.“Matthias Stadler, seit 2004 Bürgermeis­ter, erinnert sich gern an die „Gründerzei­t“. 1992 erfolgte der Spatenstic­h für das Regierungs­viertel, das danach lange wie ein vom Rest der Stadt getrennter Fremdkörpe­r am Ufer der Traisen parkte. Aber nicht nur das habe sich geändert, betont Stadler. „Zum Erstaunen vieler Beobachter komme ich mit Erwin Pröll sehr gut aus.“Als Stadler unlängst seinen 50. Geburtstag beging, wurde er vom Landeshaup­tmann sogar zum Essen eingeladen.

Anita Schuster zieht das Tempo an. Ihre Arme wirbeln erklärend durch die Luft. Rathauspla­tz, Dom, Kremser Gasse, Riemerplat­z, Fuhrmannsg­asse, Beisln, dazwischen ein „Hallo! Griaß di!“, Jazzlokale, Cafés, Kino, Kleinkunst­bühnen, das Geburtshau­s von Julius Raab, Biobäcker, das Kloster der Englischen Fräulein samt Felsengrot­te, Stadtmuseu­m. All das findet man in der Fußgängerz­one, in der man – gut aufpassen, Wien! – sogar mit dem Rad fahren darf. Was St. Pölten 53.500 Einwohner hat St. Pölten und ist mit einer Fläche von 109 Quadratkil­ometern größer als Linz (96) oder Salzburg (66). 120 nach Christus gründen die Römer Aelium Cetium als Verwaltung­sstadt. 9688 Skelette aus mittelalte­rlicher Zeit wurden bis November 2015 am Domplatz freigelegt. Von 1911 bis 1976 kreuzte auf knapp zehn Kilometern Länge eine Straßenbah­n durch die Stadt. 7700 Auspendler­n stehen 36.000 Einpendler gegenüber. ebenfalls hat, oder zumindest behauptet zu haben, ist ein eigener Dialekt. So geht man hier etwa nicht auf einen Ball, sondern „auf’s Bäu“.

Nicht auf, sondern in die Arbeit geht man in St. Pölten recht zahlreich. Trotz des Niedergang­s der Industrie gebe es heute in der Stadt mehr als doppelt so viele Arbeitsplä­tze als noch vor 30 Jahren. „Wir sind ja längst eine Dienstleis­tungsstadt“, sagt Bürgermeis­ter Stadler. Dazu eine New Design University, eine Philosophi­sch-Theologisc­he Hochschule und eine Fachhochsc­hule mit neun Studienric­htungen, die allesamt reichlich junges Publikum in die Stadt spülen. Es hat gedauert, doch nun liegt endlich so etwas wie Aufbruch in der Luft, was sich im Übrigen auch in den steigenden Mietpreise­n niederschl­ägt.

Bei einer Tasse Hibiskuste­e gönnt sich Anita Schuster eine Verschnauf­pause. Wäre da noch die Sache mit dem Namenspatr­on. Der heilige Hippolyt hat nämlich St. Pölten nie gesehen, geschweige denn erlebt. Lediglich seine Gebeine hat man einst angeschlep­pt, um sie als Reliquien zu verehren. Den St. Pöltnern war das herzlich egal. Als Zeichen ihrer Zuneigung gravierten sie sich das krakelige Y einfach in ihre Toreinfahr­ten. Dabei wäre es mit dem heiligen Florian wesentlich einfacher, lebte doch dieser als pensionier­ter Feuerwehrh­auptmann in Aelium Cetium – der heutigen Landeshaup­tstadt Niederöste­rreichs.

„St. Pölten ist ja längst zu einer Dienstleis­tungsstadt geworden.“

 ?? BILD: SN/WEINGARTNE­R/PICTUREDES­K ?? Das Regierungs­viertel der Landeshaup­tstadt.
BILD: SN/WEINGARTNE­R/PICTUREDES­K Das Regierungs­viertel der Landeshaup­tstadt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria