Das alte Amerika
CHRISTIAN RESCH Dingeling, macht die Glocke des kleinen Elektrozugs, damit auch ganz sicher keine Touristengruppe von dem Ding überfahren wird. Knallbunt bemalt ist diese „Eisenbahn“auf Gummireifen, knallbunt sind die Shorts und Sonnenkäppchen der US-Touristen, die es sich auf den Bänken der Miniwaggons gemütlich gemacht haben. Noch einmal Dingeling, und das Ding rollt weiter durch die wenigen Gassen des historischen Zentrums von St. Augustine, wo ein Souvenirladen neben dem anderen steht, zwischen Eisläden, Porträtfoto-Shops und einer pseudohistorischen Shopping Mall. „Amazing“finden das viele der englischsprachigen Touristen, die meisten davon im Pensionsalter.
Doch es sind nur diese paar Gassen in dieser Kleinstadt in Nordostflorida, die sich selbst der Verkitschung ausgeliefert haben und zu einem Vergnügungspark der in Plastik gegossenen US-Geschichte geworden sind. Hier in St. Augustine scheint alles auf amerikanische Bedürfnisse einer Sehenswürdigkeit ausgelegt. Doch der Ort ist überschaubar, er ist, für europäische Reisende, in einer Stunde besichtigt. Und er ist in Amerikas altem Süden die absolute Ausnahme.
Spannender ist da schon die historische Umgebung dieser ältesten durchgehend besiedelten Stadt Nordamerikas. Der Eisenbahn-Tycoon Henry Flagler hat hier vor weit mehr als einem Jahrhundert riesenhafte Hotels gekauft oder gleich selbst aus dem Boden gestampft. Oft in einem schräg anmutenden historisierenden Stil – gebaut mit Beton, dem ultramodernen Wunderbaustoff der US-Nachbürgerkriegszeit. Gewiss, auch diese Bunker strahlen ein bisschen Disneyworld-Feeling aus, heute beherbergen sie teils Museen und eine elitäre Kunstschule. Doch ihre Architektur ist gerade auf dem Sprung vom Kitsch hin zur wahrhaft historischen Bausubstanz, in jener Zwischenwelt der Ästhetik, die sich am besten mit dem Begriff „irgendwie kultig“beschreiben lässt.
Rund 200 Kilometer weiter nördlich entfalten die Südstaaten noch stärkeren Charme. Savannah in Georgia, etwa so groß wie Salzburg, strahlt eine Art von besonderer Ruhe aus. Das kann an den 24 kleinen Plätzen liegen, welche die schachbrettartigen Straßenzüge regelmäßig unterbrechen. Hier wuchern riesige alte Eichen, von denen manche vielleicht schon den Einzug des Nordstaatengenerals William T. Sherman in die Stadt im Jahr 1864 erlebt hat.
Zwischen den neoklassizistischen Bürgerhäusern der amerikanischen Wiederaufbauzeit lässt es sich stundenlang flanieren. Und unten am Fluss, der der Stadt ihren Namen gibt, ist es auch nicht ganz so trocken – was neben den Gestaden des Fließgewässers auch an der Factor’s Road liegt, einem der wenigen Orte im erzkonservativen Süden, wo man auf offener Straße Alkohol trinken darf.
Gemütlich seien sie, die Südstaatler, aber auch streng gläubig, streng konservativ, streng republikanisch. So heißt es jedenfalls im Norden. Freilich, Zuschreibungen sind das, Vorurteile gewissermaßen. Und doch ist was dran. Weiße Veranden, gepflegte Vorgärten, amerikanische Flaggen auf Autohäusern, so groß wie Tennisplätze, schwere Autos im Schützenpanzer-Format, schwere Waffen, die man bei WalMart kau- fen kann, und die scheinbar schwere Zunge des Südstaaten-Slangs.
Hier lässt sich ein wenig erfühlen, was Amerika abseits der Straßenschluchten Manhattans auch noch bedeutet. Hatte einem ebendort noch ein urban-avantgardistischer Fremdenführer erklärt, dass das ganze Land im Veganer-Fieber sei und eigentlich nur noch grüne Spinat-Smoothies konsumiere, wird einem in South Carolina, in Georgia oder noch weiter im Süden die Lächerlichkeit dieser Behauptung schnell bewusst.
Sie besteht im Wesentlichen in der Anmaßung, dass der große Rest von „Gods Own Country“kulturell den Metropolen der Nordostküste nacheifere. Doch selten hat man sich New York ferner gefühlt als etwa in Charleston, wo sich ein Herrenhaus an das andere reiht, nur dass den Herren ihre schwarzen Sklaven abhandengekommen sind.
Hier gibt es scharfe Chicken Wings und Ribs, nicht nur Cajun Style, scharf, heiß und fettig. Und dazu, wenn man Glück hat, sogar passables Bier. Oder, mit noch mehr Glück, eine exzellente Bloody Mary. Abends sind die Straßen leer, die Kirchen morgens voll. Und das soziale Leben liegt in der Hand der „Foundations“oder sonstiger Privatinitiativen, auf den Staat verlässt man sich lieber nicht.
Doch man sollte sich nicht täuschen: Ländliche Farmer-Idylle gibt es auch preislich nur auf hohem Niveau. Denn die Bürger aus Boston und New York haben das Flair des „alten Amerika“längst für sich entdeckt – die Immobilienpreise sind entsprechend. So manche Südstaatenvilla mit Blick aufs Meer oder in einem der eichenbestandenen Parks geht da schon einmal beinahe für Manhattan-Preise „über den Tresen“.
Falsch. Zwischen Charleston
und St. Augustine verbergen sich historische Orte, im „alten Süden“ist überall Vergangenheit. Auch mit ihren Schattenseiten: Rückwärtsgewandtheit
und Kitsch.