Wir sind tief erschüttert
Ursachen und Folgen des Terrors. Die Autorin Gila Lustiger vertraut darauf, dass die Angst die Menschen in Paris nicht überwältigt.
Dieser Terror soll uns allen Angst machen. Zuerst, im Jänner 2015, haben die Anschläge auf die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“und einen jüdischen Supermarkt Entsetzen ausgelöst. Dann, am 13. November 2015, ist bei den Anschlägen in Paris die ganze Zivilgesellschaft angegriffen worden. Doch Gila Lustiger ist überzeugt: Die Franzosen lassen sich nicht einschüchtern.
SN: Wie sehr erschüttert, wie stark verwundet ist Paris – vier Monate nach den Terroranschlägen?
Lustiger: Dieser Terror hat uns alle erschüttert, aber verwundert hat er uns nicht. Wir haben vielleicht nicht damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde. Aber als es passiert war, erschien es uns offensichtlich. Mit dieser Tatsache, dass Attentate möglich sind, leben mittlerweile alle – nicht nur in Paris, sondern in ganz Europa. Das verändert natürlich den Alltag schon in gewisser Weise: Man steigt nicht mehr so unbefangen wie vorher in eine Metro. Trotzdem geht das Leben weiter.
SN: In Ihrem Buch versuchen Sie ja, „den Terror zu verstehen“. Welche Erklärung haben Sie jetzt?
Ich denke an ein Zitat aus Voltaires Streitschrift „Über die Toleranz“. Es lautet: „Es gehört Geschick dazu, Fanatiker aus Menschen zu machen und sie dementsprechend zu lenken. Aber Schwindel und Dreistigkeit allein genügen nicht. Alles hängt davon ab, im richtigen Augenblick auf die Welt zu kommen.“Voltaire meint damit, dass man sich immer auf den Geist der Zeit stützen muss, um Fanatismus zu schüren. Nicht jede Epoche bringt Dschihadisten hervor. Unsere aber schon. Ein Frage ist daher: Wer propagiert das, wer finanziert das? Jedoch muss man sich danach fragen, warum gera- de ein Islam in seiner radikalsten Ausprägung, der mit unseren europäischen Grundwerten unvereinbar ist, solch eine Anziehungskraft auf junge Menschen ausübt. Was macht junge Menschen heute so anfällig für diesen neuen Faschismus?
Sie ziehen in Ihrem Essay eine direkte Verbindungslinie zwischen den Unruhen in den Banlieues 2005 und dem Terror 2015. Waren diese Krawalle in den Vorstädten ein Warnsignal, das nicht genügend beachtet worden ist? Ja, ganz sicher fühlen sich in Frankreich Menschen aus Nord- und Schwarzafrika schon seit Jahrzehnten ausgegrenzt. In den sozialen Brennpunkten des Landes gibt es eine endemische Arbeitslosigkeit. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie nicht dazugehören. 2005 ist man zum ersten Mal auf diese Jugendlichen aufmerksam geworden – auf ihren Frust, ihre Perspektivlosigkeit und ihre Gewaltbereitschaft. Die Unruhen waren auch ein Zeichen dafür, dass die Jugendlichen zwar die republikanischen Werte von Gleichheit und Brüderlichkeit verinnerlicht hatten, aber täglich damit konfrontiert wurden, dass es bei der Umsetzung haperte, um es gelinde auszudrücken.
SN:
Die Regierung von Präsident François Hollande hat auf den Terror vom 13. November in massiver Form
SN: reagiert: Ausnahmezustand für mehrere Monate, verstärktes militärisches Vorgehen gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS). Halten Sie diese Antwort für angemessen?
Wie effizient der Ausnahmezustand ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Es ist natürlich ein Einschnitt in die Freiheit der Bürger. Aber Meinungsumfragen zeigen, dass vier von fünf Franzosen für den Ausnahmezustand sind. Bei der Frage „Freiheit oder Sicherheit?“wählen also 80 Prozent der Franzosen die Sicherheit. Präsident Hollande hat nach dem Terror vom 13. November erklärt, dass sich das Land jetzt „im Krieg“befinde. Ich halte es für fatal, dass wir auf diese Weise die Rhetorik des „Islamischen Staates“übernehmen. Wir in Europa leben in Demokratien; der IS aber ist kein Staat, sondern eine Terrororganisation.
Hinzu kommt, dass die meisten Terrortäter von Paris französische Staatsbürger gewesen sind. Auch wenn man wie Premier Manuel Valls vorschlägt, Franzosen nach einer Verurteilung wegen Terrors die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, wird man sich nicht darum herumdrücken können: Dieser Terror ist ein hausgemachtes Phänomen.
SN:
Ist zu befürchten, dass am Ende die extreme Rechte in Frankreich davon profitieren wird?
Die extreme Rechte profitiert bereits davon. Bald nach den Attentaten vom 13. Novem- Die Autorin, 1963 in Frankfurt/Main geboren, ist die Tochter des deutschjüdischen Historikers Arno Lustiger und lebt in Paris . In ihrem ersten Roman „Die Bestandsaufnahme“(1995) verarbeitete Gila Lustiger jüdische Schicksale während des Nazireichs. Mit dem autobiografischen Roman „So sind wir“(2005), in dem sie die Geschichte einer jüdischen Familie im Nachkriegsdeutschland schildert, erzielte sie einen Publikumserfolg. Ihr Roman „Die Schuld der anderen“(2015) wurde zum Bestseller. Ihr neues Buch „Erschütterung“über den Terror in Paris ist soeben im Berlin Verlag erschienen. ber fanden Regionalwahlen in Frankreich statt, bei denen die Front National (FN) von Marine Le Pen die stärkste Partei wurde. Erschreckend ist meines Erachtens, dass vor allem die jungen Wähler, die 18- bis 24-Jährigen, der FN so viele Stimmen verschafft haben. Das ist die „Erasmus-Generation“, die selbst weltgewandt ist. Zu ihr gehören Menschen, die im Ausland gewesen sind und mit Differenzen umgehen können. Diese jungen Menschen hatten offenbar das Empfinden, dass die demokratischen Parteien keine Antworten auf die angsteinflößende Situation des Terrors geben können. Marine Le Pen gibt ganz einfache Antworten – wie alle Populisten. Aber in Wahrheit gibt es keine einfachen Antworten.
SN:
Was vor allem ist in einer solchen Situation zu tun?
Die Terroristen haben ja an einem Freitagabend, der in Paris der Ausgehabend schlechthin ist, zugeschlagen – und zwar an Orten, wo sich viele Menschen getroffen haben: in einem Konzertsaal, in Restaurants und Cafés, in einem Sportstadion. Wir leben folglich in Zeiten, in denen Terroristen unserer Zivilisation und unserer Art zu leben den Krieg erklärt haben. In einer solchen Lage kommt es vor allem darauf an, dass wir die demokratischen Werte, unsere Grundrechte verteidigen.
Wenn Sie auf die weitere Entwicklung in Frankreich schauen – haben Sie gute Gefühle oder eher böse Ahnungen? Ich bin eine Optimistin. Ich hoffe, dass die Zivilgesellschaft schlauer ist als ihre Politiker. Vor allem in Paris haben die Menschen die Überzeugung gewonnen, dass man miteinander leben kann; dass das zum Selbstverständnis ihrer Stadt gehört. Sie lassen sich nicht so leicht gegeneinander aufhetzen. Zwar ist es nach den Attentaten vom 13. November vereinzelt zu rassistischen – auch antisemitischen – Ausschreitungen gekommen. Aber die Zivilgesellschaft ist weitaus weltoffener, als viele ihr nachsagen.
SN: