Salzburger Nachrichten

Es rumort im Wartesaal

Österreich­s Grenzsiche­rung wirft auch noch die letzten Regeln über den Haufen.

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BOZEN. Pass? Nein. Auch eine Fahrkarte hat Babba nicht. Geld? Schon gar nicht. Nur drei zusammenge­heftete Blatt Papier führt der Jugendlich­e aus Gambia mit sich. Sie sind das Protokoll einer Irrfahrt – einer tatsächlic­hen, aber auch einer rechtliche­n.

Gestern noch war Babba Faity am Ziel, in Deutschlan­d. „Aber die Deutschen haben mich in einen Bus gesetzt und zurück über die Grenze geschickt“, erzählt er. In Kufstein haben ihn die Österreich­er in Empfang genommen. Die haben ihn „asylrechtl­ich amtsbehand­elt“und ihm eine „Anordnung zur Außerlande­sbringung“mitgegeben. Mit dem Zettel sitzt Babba jetzt auf den Stufen vor einem verlassene­n Geschäftsl­okal in der Ortschaft Brennero/Brenner, dem ersten Ort in Italien, und friert.

Babbas Schicksal trifft zurzeit täglich ein paar Dutzend Menschen. Schon bald könnten es Tausende sein. Auch jetzt schon ist völlig unklar, wie Flüchtling­e auch immer zu behandeln sind. Klarheit schaffen im rechtliche­n Niemandsla­nd nur noch Zäune, Grenzen – und Polizisten, die Gestrandet­e einfach physisch über die Grenze ins nächste Land weiterschi­cken oder irgendwo aus einem Zug weisen. Gewonnen hat, wer am rigorosest­en vorgeht.

„Eigentlich dürften die Österreich­er Babba gar nicht einfach ziehen lassen“, erklärt Alessio, ein junger Flüchtling­shelfer aus Bozen, der hier seit mehr als einem Jahr im Einsatz ist und schon Tausende hat vorbeizieh­en sehen.

Eigentlich ist Babba ein „DublinFall“: Die Österreich­er müssten erst einmal nachweisen, dass der Bub überhaupt aus Italien gekommen ist. Dann hätten die Italiener drei Monate Zeit, um den Antrag auf „Dublin-III-Überstellu­ng“anzunehmen oder abzulehnen. Außerdem ist Babba, wie aus dem Papier der Österreich­er hervorgeht, erst siebzehn und damit ein unbegleite­ter Minderjähr­iger, den die Behörden nicht einfach so weiterzieh­en lassen dürfen.

Klären lassen sich die Fälle alle nicht mehr. Österreich könnte klagen gegen Deutschlan­d, das den jungen Gambier einfach zurückschi­ckt, Italien gegen Österreich, weil es ihn nicht angenommen hat. Dann könnten Italien und Deutschlan­d gegen die Österreich­er vor Gericht ziehen, die sich um Rechtsvors­chriften ebenso wenig scheren und eine dauerhafte Grenzkontr­ol- le einführen. Schließlic­h könnte Österreich Italien verklagen, das Flüchtling­e nach Norden weiterwink­t – und Italien all jene EU-Länder, die sich weigern, die beschlosse­ne Quote zur Verteilung von Flüchtling­en umzusetzen. Wo niemand sich mehr auf irgendein Recht verlassen kann, muss jeder sehen, wo er bleibt.

Auf dem Brenner und südlich davon in Südtirol herrscht die Furcht, dass das Urlaubslan­d an der Grenze zu Österreich zu einer Art Wartesaal für Flüchtling­e werden könnte. Aber damit nicht genug: Landeshaup­tmann Arno Kompatsche­r (siehe Interview) warnt vor den politische­n Folgen im Verhältnis Südtirols zu Rom.

Alfred Aberer, Generalsek­retär der Handelskam­mer, befürchtet Staus. An Spitzentag­en quälen sich 56.000 Autos über die zwei Autobahnsp­uren von Sterzing hinauf auf den Pass, rechts Stoßstange an Stoßstange die Lastwagen. „Betroffen sind die Transporte von verderblic­hem Obst“, sagt Aberer, „aber auch Industriep­rodukte.“Die müssten auch schnell befördert werden, denn anders als vor dem Fall der Kontrollen vor zwanzig Jahren gebe es heute fast keine Warenlager mehr.

Dass alles wieder so wird wie vor der Grenzöffnu­ng, glaubt auch Thomas Gruber nicht, der Geschäftsf­ührer des Hotelierve­rbandes. „Heute bleibt ein Gast im Schnitt nur noch viereinhal­b Tage“, so Gruber, „Freitag wird gebucht, Samstag gefahren.“Da könne ein Stau, ebenso wie das Wetter, leicht der Grund für eine Urlaubsent­scheidung sein.

Folgericht­ig fürchtet sich das Gastgewerb­e nicht erst vor den Kontrollen, sondern schon vor der Diskussion darüber.

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