Der Nahe Osten ist zu Europas „Hinterhof “geworden
Anne-Béatrice Clasmann zeigt im Buch über den Araber-Aufstand, wie nahe uns die Krisenregionen gerückt sind.
SALZBURG. Das Terrorkommando, das im Jänner 2015 die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“in Paris überfiel, hatte eine „Jemen-Connection“. Das Brüderpaar Chérif und Saïd Kouachi war in Arabiens Armenhaus für seine abscheuliche Tat ideologisch aufgerüstet und militärisch trainiert worden.
Der erweiterte Mittlere Osten ist zu Europas „Hinterhof“geworden. So die Einschätzung eines Beobachters vom britischen Sender BBC. Aus dem Krisengürtel, der von Tunesien über Libyen und Syrien bis in den Iran und nach Afghanistan reicht, schwappen die Probleme immer massiver auf unseren Kontinent. Das ist eine Umkehrung der Verhältnisse in früheren Zeiten, als europäische Kolonialmächte wie Frankreich, Großbritannien und Italien diese Weltregion maßgeblich bestimmt haben. Vor 100 Jah- ren zogen beispielsweise Briten und Franzosen in Nahost Grenzen, die heute unter Druck geraten.
Diese Vergangenheit hat zuerst Frankreich eingeholt, mit dem erbitterten Konflikt während des Unabhängigkeitskampfes der Algerier in den 1950er Jahren und eine Generation später, in den 1990er Jahren, mit den Terrorattacken algerischer Islamisten auf französische Ziele.
Inzwischen aber gibt es eine globalisierte Welt, in der alles mit fast allem verzahnt ist. Migration, neue Medien und weltweite Handelsströme schaffen einen Konnex, durch den die Folgen lokaler und nationaler Krisen über große geografische Räume hinweg spürbar werden.
Auch Anne-Béatrice Clasmann zeigt dies in ihrem Buch über die „Arabellion“, das jetzt in einer aktualisierten Fassung erschienen ist. Aus dem Traum der Araber von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sei ein Albtraum geworden, so ihre bittere Bilanz. Das heißt im Detail: ein fürchterlicher Mehrfrontenkrieg in Syrien; Hunderttausende Flüchtlinge, die in Europa Schutz suchen; noch mehr Menschenrechtsverletzungen; ein Erstarken der militanten Strömungen des politischen Islam; eine Auflösung staatlicher Strukturen im Jemen, im Irak, in Syrien und in Libyen.
Weshalb sind die arabischen Protestbewegungen weitgehend gescheitert? Warum führen auch demokratische Wahlen nicht unbedingt zu demokratischen Verhältnissen?
Weil es ein „Aufstand ohne Ziel“gewesen ist, argumentiert die Autorin. Gegen jahrzehntelange Willkürherrschaft gingen viele Araber 2011 auf die Straße. Für die Würde des Menschen wollten sie vor allem demonstrieren. Der Sturz des Regimes war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle Protestgruppen einigen konnten. Über das Nachher aber gab es bei den Aufständischen wenig konkrete und eher konträre Vorstellungen.
Auch prägende Persönlichkeiten, die den Massen den Weg hätten weisen können, fehlten; es war eine „Revolution ohne Helden“. Viele Aktivisten gaben zu früh auf. Ihnen erschien das politische Tagesgeschäft im Vergleich zur Euphorie der Massenproteste als gering. So versäumten sie es, sich für die Gründung neuer Parteien zu engagieren. Die lang andauernde orientalische Despotie hatte in vielen Ländern dafür gesorgt, dass die Zivilgesellschaft schwach blieb.
In Ägypten war es letztlich die Militärführung, die Präsident Hosni Mubarak im Jahr 2011 beiseiteschob. Armee, Polizei, Justizapparat und viele andere Institutionen blieben nach dem Umbruch nahezu unangetastet. Von einer „Revolution“lässt sich folglich in diesem Fall gar nicht sprechen. Es gab hier keine radikale Veränderung der politischen Verhältnisse und Machtstrukturen – anders als in Tunesien und in Libyen.
Den Tunesiern attestiert die Autorin in ihrem prägnant und plausibel geschriebenen Buch als einzigem arabischen Volk, den Übergang zu einer neuen, demokratischen Ordnung geschafft zu haben – wenngleich der Maghreb-Staat heute massiv vom islamistischen Terror bedroht ist und dringend europäischer Unterstützung bedarf. Das Aufbegehren im „arabischen Frühling“sei kein Sprint, sondern ein Marathon, bilanziert das Buch. Anne-Béatrice Clasmann: Der arabische (Alb-)Traum. Aufstand ohne Ziel. Passagen Verlag, Wien 2016.