Brasilien schlittert ins Chaos
Ein Machtkampf macht die Regierung handlungsunfähig. Ehemalige Verbündete, die Opposition und eine Mehrheit der Bevölkerung wollen die Präsidentin stürzen.
BRASILIA. Präsidentin Dilma Rousseff (68) kann einem Amtsenthebungsverfahren kaum noch entgehen. Ihr größter Koalitionspartner hat angekündigt, die Regierung zu verlassen. Es handelt sich um die rechtsliberale Partei PMDB. Deren Chef Michel Temer steht bereit, Rousseffs Amt interimistisch zu übernehmen.
Rousseffs Arbeiterpartei und ihre verbleibenden kleineren Koalitionspartner kommen nicht auf die notwendigen 171 Mandate, um das Impeachment-Verfahren gegen die Staatschefin zu blockieren. Die PMDB, eine Partei ohne feste Ideologie, war seit 2003 Verbündete der Regierungen unter Präsident Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Rousseff. Die PMDB stellte sechs der 31 Minister der Regierung und 68 der 513 Abgeordneten.
Das größte Land Lateinamerikas bewegt sich nach dem Koalitionsbruch auf ein totales politisches Chaos zu. Es gibt keine Mehrheiten mehr, um dringend notwendige Gesetze zu verabschieden. Zudem richtet das Land in vier Monaten die Olympischen Sommerspiele in der Metropole Rio de Janeiro aus. Die Arbeiterpartei verfügt selbst nur über 59 Sitze im Abgeordnetenhaus. Die linken Verbündeten haben zusätzlich rund 100 Mandate. Derweil kommen die Impeachment-Befürworter auf 111 Mandate. Insgesamt brauchen die Anhänger 341 Mandate. Kaum ein Abgeordneter der Opposition wird sich auf die Seite der Präsidentin schlagen, zumal Rousseff in der Bevölkerung keine Unterstützung mehr genießt. Ihre Zustimmungswerte liegen mittlerweile nur noch bei knapp zehn Prozent. Zwei von drei Brasilianern sind laut Umfragen für eine Amtsenthebung.
Brasilien steckt in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. 2015 brach das Bruttoinlandsprodukt um 3,8 Prozent ein. Neun Millionen Menschen sind ohne Job. Das sind fast zehn Prozent aller erwerbsfähigen Brasilianer. Vor allem die schlechte Wirtschaftslage wird der Staatschefin angelastet.
Aber zum Verhängnis wird ihr vermutlich die Schmiergeldaffäre um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, deren Aufsichtsratsche- fin sie von 2003 bis 2010 war. Die Ermittler, die seit mehr als zwei Jahren das Korruptionsgeflecht untersuchen, werfen Rousseff vor, ihren Wahlkampf für die Wiederwahl 2014 auch mit Schmiergeld um den Petrobras-Konzern finanziert zu haben. Rousseff weist die Vorwürfe zurück. Zudem soll sie unlautere Budgettricks angewendet haben. Auch das dementiert sie und spricht von einem „Putschversuch“.
Das Parlament hat ein Amtsenthebungsverfahren Mitte März mit der Bildung einer Sonderkommission auf den Weg gebracht. Für eine Anklageerhebung müssen zwei Drittel der Abgeordneten stimmen. Anschließend würde die Präsidentin zunächst für 180 Tage suspendiert – Vizepräsident und PMDBChef Michel Temer würde folgen. Der Senat würde dann ein halbes Jahr die Vorwürfe detailliert prüfen, Ende Oktober könnte er Rousseff mit Zweidrittelmehrheit endgültig des Amtes entheben. Pikanterweise hat der 75jährige Michel Temer selbst mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen. Politische Beobachter halten seine PMDB ohnehin viel stärker in Bestechungsaffären verwickelt als die Arbeiterpartei von Dilma Rousseff. Ihr Mandat läuft regulär Ende 2018 aus. Sie wäre das zweite Staatsoberhaupt nach Fernando Collor de Mello 1992, das sein Amt vorzeitig durch ein Impeachment verliert.
Dilma Rousseff war 2010 und mehr noch 2014 gerade von vielen der Armen im Land mit großen Hoffnungen gewählt worden. Doch das Rezept, mit internationalen Großereignissen wie der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spielen im August die wachsende Protestwelle einzudämmen, funktioniert offenbar nicht mehr. Schlimmer noch: Der Umgang mit Milliardensummen, die in die Fußball-WM gesteckt wurden und auch in Olympia fließen, nährt weitere Kritik.
„Es handelt sich um einen Putschversuch“