Ein Salzburger zog historische Spuren in luftigen Höhen
„Buwi“Bradl war vor 80 Jahren der erste Mensch, der mit Ski über 100 Meter weit sprang. Das Leben des Pongauers war aber nicht nur wegen der sportlichen Leistung beachtenswert.
Eines Tages in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts fuhr der junge Reporter mit großem Interesse und ebensolcher Ehrfurcht nach Mühlbach am Hochkönig, genauer gesagt: ins Rupertihaus, um ein erstes Interview mit Sepp Bradl, dem uneingeschränkten „König“der österreichischen Skispringer, zu führen, nicht mehr mit dem Aktiven Bradl, sondern mit dem Trainer Bradl. Was hatten sie alle im Vorfeld erzählt, grundsätzlich unnahbar sei er, grantig meist zu Journalisten, in seiner Wortwahl nicht gerade zimperlich, eine andere als seine Meinung kaum akzeptierend, stets polarisierend. Oben im Rupertihaus ging alles ganz schnell. „Derfst Buwi zu mia sogn“, war die kurze Begrüßung – und das Eis, so es überhaupt eines gegeben hatte, war gebrochen.
Bradl war ohne Zweifel Österreichs bekanntester und erfolgreichster Skisportler der 30er-Jahre, er war auf der Skala der Popularität vergleichsweise der Toni Sailer oder Franz Klammer oder Hermann Maier der Vorkriegszeit.
Der aus dem Zillertal stammende Bergknappe Josef Bradl und seine Frau Anna lebten im bayerischen Wasserburg am Inn, wo am 8.Jänner 1918 ein strammer Bub auf die Welt kam, Sepp wurde er getauft, Buwi gerufen – der Spitzname aus Kindertagen blieb ihm zeitlebens. 1920 entschied sich der Vater, fortan im Kupferbergwerk in Mühlbach am Hochkönig zu arbeiten. Und so mutierte der kleine Bayer zum Pongauer. Aus Teilen gebrochener Ski bastelte Vater Josef dem jungen Sepp die ersten eigenen Bretter zusammen, der Bub schaute zum Vater auf. Nach der harten Arbeit im dunklen Bergwerksschacht kletterten die beiden in die Berge (mit elf Jahren stand er auf seinem ersten Dreitausender), eine Liebe mit letztlich tragischem Ausgang. Am 27. April 1930 wollte sich der Vater einen Traum erfüllen: Eine Wintererstbesteigung des Birgkars im Hochkönigmassiv, der Bub ging mit und auch ein Freund des Vaters. Beim Abstieg passierte es – ein herabstürzender Felsbrocken traf den Vater und schleuderte ihn in die Tiefe, er starb in den Armen des zwölfjährigen Sohnes.
In Peter Radacher, dem Hüttenwirt vom Arthurhaus, fand er einen Ersatzvater, zumindest sportlich. Der Begründer der ersten Skischule im Salzburger Land hatte 1923 die Rudolfschanze gebaut, auf der nun der kleine Bradl das Handwerk des Skispringens erlernte. Mit 15 Jahren sprang er schon 50 Meter, Radacher sah sich bestätigt, in Bradl ein großes Talent zu sehen.
Die sportlichen Leistungen wurden immer besser, Anfang 1934 ging es erstmals in die Schweiz. Im nächsten Winter folgte der erste Sieg auf dem Innsbrucker Bergisel. Und mit 18 Jahren stand der Aufsteiger plötzlich in der österreichischen Mannschaft für die Olympischen Spiele 1936 in Garmisch-Par-
200 JAHRE SALZBURG BEI ÖSTERREICH
tenkirchen. Im Training baute der junge Mann einen schweren Sturz, landete mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Am Abend vor dem Wettkampf floh der Dickschädel trotz ärztlichen Verbots aus dem Spital, ging an den Start und war nach dem 19. Platz schwer enttäuscht. Nächste Station war Planica und dort wollte er es allen zeigen, „ich kann doch mehr als das von Garmisch“, sagte er. Wenige Minuten nachdem der Laibacher Erzbischof Gregorij Rožman den neuen Bakken eingeweiht hatte, gelang Bradl die Weltsensation. Er sprang als erster Mensch über 100 Meter, exakt 101,5 Meter wurden gemessen – Weltrekord! Das Tor zu einer neuen Art des Skispringens war aufgestoßen, das Skifliegen war geboren (zwei Jahre später verbesserte Bradl den Weltrekord auf 107 Meter).
Für den frischgebackenen Weltrekordmann aus dem Pongau tat sich eine neue Welt auf, er war plötzlich „jemand“. Für ihn am wichtigsten: Er bekam eine Anstellung. Im Sporthaus Lanz in der Stadt begann er am 1. April als Verkäufer, Eigentümer Willi Lanz wurde sein Mäzen. Und die Prominenz hatte es gern, wenn sie vom Weltrekordflieger beim Kauf von Lederhose oder Dirndl bedient wurde – ob es nun Attila Hörbiger, Marlene Dietrich oder der König von Siam war.
Die sportliche Karriere nahm eine Steilkurve. Unterbrochen wurde sie in der Vorbereitung auf den Winter 1938/39 – Beinbruch. Und wieder schöpfte „Buwi“besondere Kraft aus einem Missgeschick, wie 1936 vor Planica nach dem Garmischer Purzelbaum. Verbissen arbeitete er, um für die Weltmeisterschaft 1939 in Zakopane fit zu werden. Tatsächlich stand er dann im Team, freilich nicht mehr im österreichischen, sondern im „großdeutschen“. 30.000 Zuschauer staunten an diesem 19. Februar nicht schlecht, als Bradl nach dem ersten Durchgang mit einem 80-Meter-Sprung führte. Andere sprangen in der zweiten Serie zwar weiter als Bradl, doch die Stilnoten genügten dem Mühlbacher zum Gewinn der Goldmedaille. Mit nur 21 Jahren hatte er die zweite skisportliche Sensation geschafft. Die „großdeutschen“Offiziellen führten Freudentänze auf. Das NS-Regime sandte Telegramme, vom „Führer“abwärts, ins Mannschaftshotel.
Dass Bradl nach seiner aktiven Laufbahn Trainer wurde, lag auf der Hand. 1957 übernahm er für 15 Jahre das Kommando der ÖSV-Springer. Er formte Walter Habersatter, Baldur Preiml, Reinhold Bachler und Ernst Kröll zu Weltklasseathleten.
Dem Skispringen blieb er als Schanzenchef beim alljährlichen Finale der Vierschanzentournee treu. Dort sah man Bradl auch noch am 6. Jänner 1982. Kurz darauf musste der nach außen hin kerngesund wirkende Bradl die niederschmetternde Diagnose Krebs zur Kenntnis nehmen. Am 3. März 1982 starb er in einer Innsbrucker Klinik.